WELT AM SONNTAG: Frau Lemke, Ihre grüne Parteifreundin Annalena Baerbock sang kürzlich das Hohelied auf die nukleare Teilhabe. Hätte man die Augen geschlossen, hätte man gedacht, die Außenministerin verlese eine Rede von Helmut Schmidt (SPD). Sind die Grünen seit Ausbruch des Ukraine-Krieges sicherheitspolitisch in der Wirklichkeit angekommen?
Steffi Lemke: Angesichts der aktuellen geopolitischen Ausnahmesituation müssen doch wir alle politische Prioritäten überprüfen. Die Erarbeitung der neuen Sicherheitsstrategie war bereits vor dem Krieg geplant. Und jetzt ist es erforderlich, dass wir innerhalb der Bundesregierung sowie auf europäischer Ebene und mit den Nato-Partnern versuchen, die richtigen Antworten zu finden.
Werden Ihre Grünen diese ungewohnte Marschrichtung langfristig mittragen?
Das konzentriert sich doch nicht auf die Grünen – alle Parteien müssen die richtigen Konsequenzen ziehen. In der Generaldebatte im Bundestag wurden in dieser Woche teilweise schwierige Antworten gegeben. Ich habe mich gefragt, ob jetzt versucht wird, Debatten zu führen, die nicht in die Zeit passen.
Sie meinen CDU-Chef Friedrich Merz.
Es gab mehrere Redebeiträge, bei denen ich mir die Frage stellte: Nutzt man die Situation, um kleine parteipolitische Punktgewinne zu erzielen? Nötig wäre aber über Parteigrenzen hinweg ein Verständnis dafür, dass politische Führung in einer solchen Zeit Antworten auf unangenehme Fragen erfordert - und man versuchen sollte, dies gemeinsam zu schaffen. Oder sich zumindest nicht wegen anstehender Wahlen im Hickhack verstrickt.
Was löst das bei Ihnen für Gefühle aus, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei arabischen Autokraten um Verträge wirbt, damit Deutschland aus der Abhängigkeit vom russischen Autokraten Wladimir Putin loskommt?
Robert Habeck selbst hat – in für einen Bundesminister erstaunlicher Weise – offengelegt, dass das maximal ambivalente Entscheidungen sind, die mit maximal ambivalenten Emotionen verbunden sind. Meine Gefühle sind ähnlich. Die Prioritäten der Bundesregierung sind glasklar: Den Krieg mittels Diplomatie und Sanktionen schnellstmöglich zu beenden und den Flüchtenden zu helfen. Darüber hinaus haben wir zentrale Fragen der Versorgungssicherheit zu lösen: Energie, Rohstoffe, Lebensmittel.
Trotz des Kriegs wollen Sie das Artensterben als genauso große Krise wie den Klimawandel bekämpfen. Ist jetzt wirklich die Zeit für Naturschutz?
Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass wir parallel zum Krieg Krisen, die mittel- und langfristig ebenfalls existenziell bedrohlich für die Menschheit sind – das sind die Klimakrise und das Artenaussterben –, nicht aus dem Blick verlieren. Eines gegen das andere auszuspielen, ist keine Lösung.
Wenn Sie mal einen gewissen Ressort-Egoismus an den Tag legen – wofür kämpfen Sie als Umweltministerin?
Dafür, dass wir den Klimaschutz mit Naturschutz verbinden, denn die Klimakrise und das Artenaussterben sind die größte Bedrohungen für unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Es geht nicht um den einzelnen Vogel, sondern um die Frage: Können wir die ökologischen Systeme stabilisieren, so dass zum Beispiel der Wasserhaushalt und die Böden intakt sind, landwirtschaftliche Produktion funktioniert? Die Bundesregierung setzt auch mit dem Haushalt klar auf den natürlichen Klimaschutz: Ökosysteme werden genutzt und gestärkt, um Klimaschutz zu betreiben.
Was ist Ihnen beim "Oster-Paket", mit dem Habeck und Sie bald Klima- und Artenschutz vereinen wollen, besonders wichtig?
Dass wir die Unabhängigkeit von fossilen Energien durch einen naturverträglichen Ausbau der Erneuerbaren tatsächlich hinbekommen. Der Krieg zeigt: Erneuerbare Energien haben sicherheitspolitische Bedeutung für Deutschland – auch jenseits des Klimaschutzes. Finanzminister Christian Lindner nutzt dafür den Begriff "Freiheitsenergien". Jetzt wird klar, welche Dimension der oft blockierte Ausbau Erneuerbarer hat.
Und wie stehen Sie zu Lindners Vorstoß zu Gas- und Ölbohrungen in der Nordsee, die über die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag hinausgehen würden?
Wenn man jetzt für kurze Zeit fossile Energien verstärkt nutzt – diese Diskussion läuft ja bezüglich der Kohlekraftwerke –, dann darf das keine Weichenstellung weg vom Pfad sein, unabhängig davon zu werden. Zudem sollten diese Energien dann auch zeitnah zur Verfügung stehen. Im Fall Nordsee müssten dazu auch Dänemark und die Niederlande als Partner der "Trilateralen Wattenmeerkooperation", betroffene Bundesländer, Kommunen und Inseln einbezogen werden.
Eine Linie überschreiten Sie trotz des Kriegs nicht – die zu einer Laufzeitverlängerung der drei aktiven deutschen Atomreaktoren. Ein Kernargument Ihrerseits: Man könne so nur drei Monate gewinnen. Aber das könnte doch wichtig werden – falls Russland doch den Gashebel zudreht, hätte man zumindest für den Winter 2022/23 ein Polster. Warum die harte Ablehnung?
Ich finde diese Frage sehr schwierig zu beantworten – unter dem Eindruck des russischen Beschusses von Atomanlagen in der Ukraine. Dort wird auf schreckliche Weise klar, dass Atomenergie eine Hochrisiko-Technologie ist, bei der sogar schon die externe Stromversorgung oder überlastete Arbeitsmannschaften zu einem Risiko werden, von Bränden und Beschuss ganz zu schweigen. Wir haben ja eine nüchterne Überprüfung ohne Scheuklappen vorgenommen. Jedenfalls halte ich – allemal im Lichte einer solch hochbrisanten Situation - Abstriche bei unserer Sicherheit für einen kleinen zeitlichen und nicht einmal quantitativen Energie-Gewinn für keine gute Lösung.
Besagte Überprüfung wurde in Ihrem Ministerium durchgeführt. Nicht befragt haben Sie aber kerntechnische Organisationen wie die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit – die bei einem Weiterbetrieb, anders als Sie, keine Sicherheitsbedenken hat. Warum haben Sie diese wichtigen Berater außen vorgelassen?
Wir sind das zuständige Bundesministerium für nukleare Sicherheit und tragen die Verantwortung für die Bundesatomaufsicht. Im BMUV ist die fachliche Kompetenz vorhanden, um die sicherheitstechnischen Folgen einer Laufzeitverlängerung zu beurteilen. Im Übrigen greifen wir dabei selbstverständlich auch auf Erkenntnisse zurück, die wir über die GRS, mit der wir ja sehr intensiv zusammenarbeiten, erhalten.
In der Union werden die Rufe nach einem Comeback der Atomkraft gerade lauter. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnt davor, Atomkraftwerke "unüberlegt" abzuschalten – und fordert die Technologie noch für mindestens drei Jahre als "Brücke". Die Mittelstandsunion will sogar bis zu zehn Jahre Laufzeitverlängerung. Und sie will die drei 2021 abgeschalteten Meiler wieder ans Netz nehmen. Ihre Replik?
Ich darf daran erinnern, dass Herr Söder nach dem Atomunfall von Fukushima einer der ersten war, der die AKW-Abschaltung forderte. Davor hatte er das Atomrisiko jahrelang ausgeblendet. Jetzt erleben wir die erneute Wende eines Politikers, der gleichzeitig Erneuerbare Energien bis heute ausbremst.
Wie sehr beunruhigt Sie, dass andere Länder in Europa die Atomkraft wieder stärker in den Fokus nehmen, um unabhängig von Russland zu werden? Frankreich, Belgien, die Niederlande, Großbritannien …
Jedes Land entscheidet selbst über seine Energieproduktion. Neue AKW, die erst zehn bis fünfzehn Jahre nach Baustart erstmals Strom produzieren, können doch nun wirklich keine schlüssige Antwort sein, um schnellstmöglich unabhängig von russischer Energie zu werden. Da gibt es mit den Erneuerbaren Energien schnellere und billigere Alternativen ohne Atommüllproblem. Und Ökonomisch rechnen sich AKW-Neubauten ja sowieso schon lange nicht mehr.
Ihre Staatssekretärin hat diese Woche bei den Vereinten Nationen für eine "feministische Umweltpolitik" geworben, analog zu Baerbocks "feministischer Außenpolitik". Was ist das, warum ist das wichtig – gerne anhand eines konkreten Beispiels?
Klar ist doch, dass Frauen von Kriegs- und Krisensituationen besonders betroffen sind, auch in Hungerkrisen oder bei Wassermangel. Diese Perspektive mit in den Blick zu nehmen, ist einfach wichtig. Nehmen wir die Chemikalienpolitik: Die Folgen von unsachgemäßem Umgang mit Chemikalien- und Abfallmanagement treffen überdurchschnittlich häufig Frauen. In Südost-Asien und der Sub-Sahara ist es üblich, dass Frauen mit dem Waschen von Behältern beauftragt sind, in denen zuvor Pestizide ausgebracht wurden. Ihnen fehlt häufig die Kenntnis über deren Wirkungen für ihre Gesundheit.
In der Energie-Krise haben Billiganbieter ihre Kunden praktisch über Nacht rausgeworfen. Nun sollen Versorger künftig drei Monate im Voraus ankündigen müssen, wenn sie ihren Betrieb einstellen – Stichwort Energiewirtschaftsgesetz. Wenn Anbieter sich dadurch langfristig absichern müssen, dürften Billig-Angebote auch mit sinkenden Energiepreisen nicht zurückkehren. Leisten [Erweisen] Sie den Verbrauchern damit nicht einen Bärendienst?
Erstmal haben sich die Billig-Anbieter selbst vom Markt genommen. Dadurch waren viele Menschen plötzlich mit extrem hohen Preisen konfrontiert. Was davon legal und nicht legal gewesen ist, wird derzeit geprüft. Jetzt soll klar geregelt werden, dass Energieanbieter ihre Kundinnen und Kunden nicht kurzfristig einfach im Regen stehen lassen dürfen. Sie müssen zumindest genügend Zeit haben, sich rechtzeitig einen neuen Versorger zu suchen. Deshalb ist das ein guter Vorschlag.
Der Vorschlag sieht auch vor, dass erhöhte Tarife künftig nur noch für drei Monate zulässig sind. Auch sollen in den ersten drei Monaten die Preise nach oben begrenzt sein. Um wie viel genau?
Das Problem Anfang des Jahres waren ja Preise, die sich selbst mit den hohen aktuellen Börsenpreisen kaum haben rechtfertigen lassen. Künftig gibt es eine an den Beschaffungskosten orientierte Deckelung des Preises. Und nach drei Monaten darf es gar keine Unterscheidung mehr zwischen Neukunden und Bestandskunden geben.
Der Verbraucherschutz soll zur neuen großen Säule in Ihrem Ministerium werden. Für die Verbraucherpolitik sind im Bundeshaushalt allerdings nur rund 40,9 Millionen Euro vorgesehen – weniger als im vergangenen Jahr. Wo müssen Verbraucher Abstriche machen?
Müssen sie nicht. Der jährliche Zuschuss für die Stiftung Warentest läuft aus, weil diese 2017 zusätzliche 100 Millionen Stiftungskapital erhalten hat. Es war Wunsch der Stiftung, dadurch unabhängig zu werden von jährlichen Zuschüssen. Wir haben aber auch aufgestockt im Verbraucherschutz: Künftig stehen uns mehr Mittel zur Verfügung, um überschuldete Verbraucherinnen und Verbraucher zu unterstützen. Auch die Verbraucherinformation werden wir in verschiedenen Facetten verbessern. Beim Verbraucherschutz ist mir wichtig, den Alltag der Verbraucherinnen und Verbraucher zu erleichtern und dabei die ökologische und soziale Dimension zu beachten.
Ökologie und soziale Verantwortung gibt es aber nicht umsonst. Machen Sie sich bitte ehrlich: In welchen Lebensbereichen müssen Verbraucher für den Umwelt- und Klimaschutz dauerhaft mehr zahlen?
Nicht in Vorsorge und Klimaschutz zu investieren wäre langfristig erheblich teuerer als Klimaschutz. Das spüren wir schon jetzt bei den extremen Wetterereignissen. Da sehen wir auch, wie wichtig eine Elementarschadenversicherung ist. Darauf hat kürzlich auch der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen hingewiesen. Außerdem geht es bei dieser Frage nicht nur ums Geld. Verzichten wir auf den Klimaschutz, gefährden wir ganze Existenzen.
Den einzelnen Verbraucher dürfte diese abstrakte Rechnung kaum besänftigen. Der bekommt durch den Krieg doch jetzt zu spüren, was die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern für das eigene Portemonnaie bedeutet.
Hauptsächlich spüren wir jetzt, wie teuer die Abhängigkeit von fossiler Energie ist. Unsere Aufgabe bleibt es, den Menschen mit schmalem Geldbeutel bei der Bewältigung der Belastungen zu helfen. Wir hatten vor dem Krieg schon ähnliche Preissteigerungen, etwa bei den Mieten. Meine Überzeugung ist es, dass unsere Gesellschaft in solchen Krisen die soziale Balance finden muss. Die Bundesregierung hat ja bereits ein erstes Entlastungspaket verabschiedet und das zweite jetzt beschlossen. Dass die Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro für Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen nun nochmal um weitere 100 Euro erhöht wird, ist mir besonders wichtig.
Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) hat letztens noch gesagt, dass Lebensmittel teurer werden müssten…
Das ist in dieser Verkürzung nicht richtig. Er hat auf den Zusammenhang von Preisen und einem nicht nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktionssystem hingewiesen. Es bleibt Aufgabe der Bundesregierung, den Bedürftigen bei den Folgekosten zu helfen.
Für Ihr Recht auf Reparatur gab es viel Lob von Verbraucherschützern – die hatten gefordert, das Vorhaben bis Mitte März umzusetzen. Diese Frist ist verstrichen. Wann lassen Sie Ihren Worten mal Taten folgen?
Wir arbeiten bereits an Eckpunkten, und sobald die EU-Kommission ihre Vorschläge für nachhaltige Produkte vorlegt, werden wir uns hier aktiv einbringen, damit Produkte europaweit langlebiger und gut reparierbar werden. Außerdem ist die Welt, und damit auch wir, gerade in einer extremen Ausnahmesituation.
Das haben Sie jetzt oft genug gesagt. Sie scheinen sich mit Friedrich Merz einig zu sein – der sagte, dass Sie im Grunde noch mal alles neu verhandeln müssten. Ist der Koalitionsvertrag also Makulatur?
Nein, Friedrich Merz hat nicht recht.
Noch einmal – hat der Koalitionsvertrag weiterhin Bestand?
Die Situation ist komplizierter. Nur weil uns dieser Krieg neue Zwänge auferlegt, verschwinden die existenzbedrohenden Krisen nicht einfach. Dafür haben die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag gute Lösungen erarbeitet. Dies gilt nach wie vor. Ob wir angesichts der aktuellen Situationen Anpassungen vornehmen müssen, werden wir sorgfältig prüfen und beraten und vernünftige Entscheidungen treffen.