Steffi Lemke: "Das ist kein Jahrhundertereignis, sondern die neue Realität"

06.06.2024
Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke
Im Interview mit dem Magazin Spiegel spricht Bundesumweltministerin Steffi Lemke unter anderem über Extremwetterereignisse, das Hochwasser in Süddeutschland und über notwenige Maßnahmen für die Vorsorge.

Spiegel Online: Frau Lemke, zum dritten Mal in diesem Jahr haben Starkregen und Hochwasser ganze Landstriche verwüstet. Haben wir es mit einem Jahrhunderthochwasser zu tun?

Steffi Lemke: Das ist kein Jahrhundertereignis, sondern die neue Realität. Leider müssen wir uns darauf einstellen, dass sie uns in immer kürzeren Abständen einholt.

Sie sind erst nach ein paar Tagen ins Flutgebiet gefahren. Warum?

Hier geht es nicht um einen Wettlauf. Der Kanzler, der Vizekanzler und der bayerische Ministerpräsident waren schnell vor Ort. Das sind wichtige Gesten des Mitgefühls. Da war es völlig in Ordnung, dass ich etwas später hingefahren bin, um mir ein Bild zu machen. Bei Hochwasser weiß ich, wovon ich spreche. Beim Elbehochwasser 2002 habe ich in Dessau Sandsäcke gefüllt. Damals besuchte der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder in Gummistiefeln das Flutgebiet.

Auch bei diesem Hochwasser sind Menschen gestorben, darunter Rettungskräfte. Was muss geschehen, damit sich das künftig nicht wiederholt?

Die Meldeketten und der Katastrophenschutz haben auch bei dieser Katastrophe an so vielen Stellen Schlimmeres verhindert. Ich kann den Rettern und unzähligen Helfern nicht genug für ihren Einsatz danken. Umso dringender braucht es weiterhin Anstrengungen in der Hochwasservorsorge wie Starkregenkarten, Hochwasserschutzpläne, höhere Dämme, Eigenvorsorge der Menschen und verstärkte Krisenvorsorge in allen Kommunen.

In Ihrem Ministerium befasst man sich seit Längerem mit einem neuen Hochwasserschutzgesetz. Wann wollen Sie es vorlegen?

Hochwasserschutz auch vor immer größeren Fluten ist eine Daueraufgabe. Wir müssen hier besser werden, die Vorsorge stärken. Deswegen arbeite ich mit den Ländern unter Hochdruck an diesem Gesetz. Mein Ziel ist, dass die Bundesregierung es noch in diesem Jahr beschließt.

Über Jahrhunderte haben die Menschen an den Ufern Landwirtschaft betrieben, Häuser gebaut. Wird es Enteignungen brauchen, um mehr Fläche für den Hochwasserschutz zu gewinnen?

Enteignungen halte ich für den falschen Weg. Wir haben bereits gemeinsam mit den Ländern das über sechs Milliarden Euro starke nationale Hochwasserschutzprogramm mit zahlreichen Maßnahmen aufgelegt, um eine Fläche so groß wie 33.000 Fußballfelder für den Hochwasserrückhalt zu gewinnen. Zusätzlich werden wir bundesweit Flutpolder, also weitere Rückhalteflächen, schaffen, die insgesamt so viel Kapazität haben wie ein halber Chiemsee. Wir müssen lernen, anders mit den Landschaften umzugehen, die uns wohlhabend gemacht haben. Das geht nur im Dialog mit den Betroffenen und kostet viel Geld. Trotzdem ist Vorsorge viel billiger, als die Schäden nach einer Katastrophe wie in Süddeutschland oder im Ahrtal zu bezahlen.

Woher soll in dieser angespannten Haushaltslage das Geld für mehr Hochwasserschutz und Klimaanpassung kommen?

Wir erleben eine spürbare Veränderung unserer Lebensbedingungen und müssen endlich die nötigen Schlüsse ziehen. Das bedeutet neben der Schaffung der gesetzlichen Grundlagen auch, dass wir ausreichend finanzielle Mittel bereitstellen müssen. Wir dürfen hier nicht zögern. Wir brauchen in den nächsten Jahren Milliarden für Hochwasserschutz, Klimaanpassung und Klimaschutz. Dazu gehört auch eine neue Gemeinschaftsaufgabe Klimaanpassung. Das bedeutet eine Verfassungsänderung, damit der Bund, wie unlängst vom Städtetag gefordert, gemeinsam mit den Ländern mehr Geld in Städte und Gemeinden investieren kann.

Sollte die Schuldenbremse ausgesetzt werden?

Es gibt zu den Finanzierungsfragen leider bisher keinen politischen Konsens, obwohl wir ihn dringend brauchen.

Werden die Grünen die Katastrophe als Argument zu nutzen versuchen, um die Schuldenbremse auszusetzen?

Ich glaube, klarer als heute ist noch nie gewesen, dass wir in Klimaanpassung und Klimaschutz mehr investieren müssen als jemals zuvor, weil es ansonsten sehr viel teurer wird.

Das heißt, Sie fordern eine Haushaltsnotlage, um die Schuldenbremse zu umgehen?

Wir kommen nicht weiter, wenn wir die Realität länger ignorieren. Wir müssen endlich was machen, und das heißt auch, alle finanzpolitischen Instrumente zu prüfen.

Eine Strategie zur Anpassung an die Folgen der Klimakrise soll Ihr Ministerium erst kurz vor der nächsten Bundestagswahl vorlegen. Warum lassen Sie sich so viel Zeit?

Die Klimaanpassungsstrategie geht in diesen Tagen in die Ressortabstimmung und wird dann hoffentlich zügig vom Kabinett verabschiedet. Parallel tritt am 1. Juli unser Klimaanpassungsgesetz in Kraft. Die Strategie wird erstmals messbare Ziele zum Schutz der Menschen vor den Folgen der Klimakrise festlegen.

Man dürfe den Kampf gegen den Klimawandel nicht vernachlässigen, sagte der Kanzler bei seinem Besuch im Flutgebiet. Wie glaubwürdig ist Scholz beim Klimaschutz?

Olaf Scholz steht als Kanzler für eine Wende zu mehr Klima- und Umweltschutz, an der diese Bundesregierung arbeitet, anstatt nur darüber zu reden.

Trotzdem haben Gerichte mehrfach festgestellt, dass die Klimaschutzpolitik dieser Bundesregierung unzureichend ist. Und auch die Fachleute des Expertenrats für Klimafragen gehen davon aus, dass die Klimaziele bis 2030 mit Ihrer Politik nicht zu erreichen sind.

Dieses Expertenurteil sollte uns gerade angesichts der Katastrophen in Bayern und Baden-Württemberg zu denken geben. Es schreibt uns ins Stammbuch, dass wir bei Klimaschutz und Klimaanpassung gegenwärtig noch nicht genug tun. Alle in dieser Regierung und in den Ländern müssen daran arbeiten, das zu ändern.

© DER SPIEGEL 24/2024. Das Gespräch führte Serafin Reiber

06.06.2024 | Medienbeitrag Wasser und Binnengewässer
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