Steffi Lemke: "Ich kann das Gerede vom Widerspruch zwischen Landwirtschaft und Naturschutz nicht mehr hören"

30.06.2024
Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung spricht Bundesumweltministerin Steffi Lemke unter anderem über die Auswirkungen des neuen Renaturierungsgesetzes auf die Umwelt und die Menschen.

Süddeutsche Zeitung: Frau Lemke, auf den letzten Drücker haben die Europäer das Nature Restoration Law verabschiedet, beinahe wäre es gescheitert. Was verändert es?

Steffi Lemke: Die Wissenschaft sagt uns klar: Wir müssen in eine neue Phase beim Naturschutz eintreten. Schutzgebiete und Artenschutz reichen nicht mehr. Wir müssen mit der Reparatur von Ökosystemen beginnen. Dabei hilft uns dieses Gesetz.

Hilft es uns aus der ökologischen Krise?

Es ist ein Beitrag, anders auf unsere Natur zu schauen. Wir wissen, dass der globale Wasserhaushalt aus den Fugen geraten ist. Dass wir in Europa zum allergrößten Teil gestörte oder zerstörte Süßwassersysteme haben. Schützen reicht da nicht mehr. Das ist vielleicht keine Revolution, aber die Verpflichtung, mehr und anderes zu tun.

Solche Verpflichtungen gab es schon reichlich, etwa die FFH-Richtlinie. Richtig umgesetzt ist sie bis heute nicht. Warum sollte es diesmal klappen?

Die europäischen Naturschutzgesetze haben Unglaubliches bewegt in den vergangenen Jahren. Es gibt bessere Schutzgebiete, mehr Artenschutz. Solche Erfolge sollte man nicht kleinreden. Dass wir noch nicht alles umgesetzt haben, spricht nicht gegen die Richtlinien. Im Übrigen haben wir mit der Reparatur der Natur schon begonnen.

So?

Nichts Anderes ist das "Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz" des Bundesumweltministeriums. Da haben wir 3,5 Milliarden Euro über die nächsten Jahre, die für Renaturierung und Reparatur zur Verfügung stehen. Das ist schon ein Paradigmenwechsel. Und das machen wir ja nicht aus Jux und Dollerei, sondern um uns, um Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Infrastruktur vor dem zu schützen, was sich mit der Klimakrise vor unseren Augen schon abspielt. Da findet gerade ein Umdenken statt.

Umdenken? Landwirte müssen neuerdings weniger Flächen aus der Nutzung nehmen, die Meere sollen für alles Mögliche herhalten – vieles wirkt eher wie Umdenken in die andere Richtung.

Wir erleben Rückschritt und Umdenken gleichzeitig. Aber ich kann das Gerede vom Widerspruch zwischen Landwirtschaft und Naturschutz nicht mehr hören. Wenn es einen Wirtschaftszweig gibt, der auf intakte Ökosysteme angewiesen ist, dann die Land- und Forstwirtschaft. Zielkonflikte gibt es, ja, die müssen wir besser bearbeiten als in der Vergangenheit. Da sehe ich viel Fortschritt. Auch beim Meeresschutz denken wir heute viel mehr an Ausgleich bei unvermeidbaren Eingriffen und die Reparatur mariner Lebensräume und Arten.

Wie genau wird das neue Gesetz in Deutschland umgesetzt?

Wir werden einen Umsetzungsplan aufstellen, einen "nationalen Wiederherstellungsplan". Dazu muss die EU-Kommission uns sagen, wie genau die Pläne aussehen sollen. Dafür hat sie drei Monate. Ich erwarte, dass das unbürokratisch gemacht wird. Wir brauchen keine Vorgaben für den Kronendurchmesser gesunder Bäume.

Und dann?

Die Reparatur der Natur gelingt nur gemeinsam. Wir planen, in einem Beteiligungsprozess bis 2026 die konkrete Umsetzung zu erarbeiten – mit Landwirten, Forstleuten, Fischern, Kommunen, Naturschützern. Dort werden wir Maßnahmen vorschlagen und dann öffentlich diskutieren. Die sollen dann die Umsetzung bis 2030 gewährleisten.

Dafür bleibt nicht viel Zeit. Wie konkret werden die Maßnahmen beschrieben?

Das kann zum Beispiel die Renaturierung bestimmter Auen sein. Wir müssen beschreiben, wo genau es besonders sinnvoll ist, Flusslandschaften zu renaturieren. Das müssen wir aber zusammen mit den Bundesländern machen, und natürlich mit Betroffenen. Wir sollten uns die Projekte raussuchen, wo wir möglichst schnell viel erreichen können. Mit den umstrittensten Projekten sollten wir also nicht anfangen.

Eigentlich hatten Sie einmal ein Naturflächengesetz geplant, um an die Flächen zu kommen.

Das könnte einen Beitrag leisten. Aber bisher sind die Flächen noch kein Problem – die Programme werden gut nachgefragt. Wir sind da weiter als viele andere EU-Staaten. Aber das Gesetz ist auch noch in der Diskussion. In einem föderalen Staat als Bund an Flächen zu kommen, ist nicht gerade trivial.

Werden Sie dabei dauerhaft um Enteignungen herumkommen?

Enteignungen lehne ich ab. Das hat vielleicht auch mit meiner Ost-Biografie zu tun. Ich glaube aber auch, dass wir sie nicht brauchen werden. Allen wird doch klar, dass wir natürliche Rückzugsflächen für Flüsse brauchen, Überschwemmungsflächen. Da haben Kommunen und Anwohner schon aus Gründen des Hochwasserschutzes größtes Interesse dran. Es gibt genügend Möglichkeiten, hier an Flächen zu kommen. Und was Auen bringen, merkt man beim nächsten Hochwasser.

Wie kann eine Renaturierung in Städten konkret aussehen?

Man muss sich in Städten nur umschauen: alles versiegelt. Betonflächen zu entsiegeln und Grünzüge anzulegen, würde das Leben in den Städten verbessern und zugleich Wasserspeicher schaffen. Mit der Natur wächst auch die Lebensqualität.

Wird Deutschland künftig auch wilder werden? Wird es beispielsweise mehr Flächen geben, die einfach sich selbst überlassen bleiben?

Das Ziel, zwei Prozent der Landesfläche sich selbst zu überlassen, gibt es ja schon, daran arbeiten wir. Und auch da wirkt das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz. Wildnis kann auch helfen, Wasserschutz, Hochwasserschutz, Klimaschutz und biologische Vielfalt gleichermaßen zu stärken. Da geht vieles Hand in Hand. Aber wie gesagt: Es geht meistens darum, eine angepasstere Nutzung zu finden, die uns am Ende weniger schadet.

In der Landwirtschaft hieße das vor allem: weniger Pestizide. Brauchen wir da nicht eine massive Reduktion, oder ein Verbot in Naturschutzgebieten?

Wir brauchen Veränderungen, und dazu gehört es auch, den Einsatz von Pestiziden mindestens in bestimmten Gebieten zu reduzieren. Aber wir müssen auch erkennen, dass es für manche dieser Ziele weder politische noch gesellschaftliche Mehrheiten gibt. Wir werden die negativen Auswirkungen von Pestiziden begrenzen müssen, und wir brauchen bessere, weniger schädliche Pflanzenschutzmittel.

Welche Rolle spielt dabei die Biodiversitätsstrategie, an der Sie arbeiten? Wird da zum Beispiel auch das Ziel verankert, die schädlichen Wirkungen gefährlicher Pestizide zu halbieren?

Mit der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt beschreiben wir für alle relevanten Bereiche, was zum Schutz der Biodiversität zu tun ist. Dazu zählt auch das Ziel, das Risiko und den Einsatz von Pestiziden bis zum Jahr 2030 um die Hälfte zu verringern. Bis zur nächsten Weltnaturschutzkonferenz in Kolumbien Ende Oktober soll sie kommen.

Zu den Zielen der EU zählt auch, drei Milliarden Bäume bis 2030 zu pflanzen. Wie viele davon werden denn in Deutschland stehen?

Auch an dieser Stelle werden wir die Vorschläge der EU-Kommission abwarten müssen. Es sind schon jetzt sehr viele Baumpflanzinitiativen unterwegs: Vereine, Initiativen, die das bereits machen. Solche Initiativen müssen wir unterstützen. Wer Bäume pflanzt, schafft Zuversicht. Auch hier geht es darum, etwas zu unterstützen und leichter zu machen, das bereits in der Gesellschaft passiert.

Das Renaturierungsgesetz sieht vor, bis 2030 immerhin 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme zu renaturieren. Wie wollen Sie das finanzieren? Geld ist ja derzeit sehr knapp.

Moment mal. Der natürliche Klimaschutz und der Schutz der Ökosysteme hat in dieser Legislaturperiode so viel Geld zur Verfügung wie nie zuvor. Mit Abstand. Über Jahrzehnte hat sich der Naturschutz beklagt, kein Geld zu haben. Das ist jetzt anders, trotz der Haushaltskrise, trotz eines Kriegs in Europa.

Wie viel bleibt davon übrig nach den Haushaltsverhandlungen?

Die laufen noch. Ich kann die Ergebnisse nicht vorwegnehmen, es ist ja jeden Tag zu lesen, wie herausfordernd die Verhandlungen sind. Mein wichtigstes Ziel ist, das Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz zu verstetigen und auch über 2027 hinaus fortzusetzen.

Wenn das Nature Restoration Law erfolgreich sein sollte – was bedeutet das für Deutschland in den nächsten 20 oder 30 Jahren?

Dann werden wir viele der Zielkonflikte behoben haben, zwischen Verkehr, Landwirtschaft, Bauwesen einerseits und dem Schutz der Ökosysteme andererseits. Mit dem Ergebnis, dass alle Menschen sich weiter in schöner Natur erholen können und wir Land- und Forstwirtschaft so betreiben, dass die Natur nicht über Gebühr geschädigt wird. Wenn wir das hinbekommen, hätten wir die Versprechen der letzten Jahrzehnte endlich eingehalten.

© Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content

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Natürlicher Klimaschutz

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30.06.2024 | Medienbeitrag Naturschutz
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