SPIEGEL: Frau Lemke, die Welt hat ein neues Naturabkommen. Den meisten Leuten außerhalb dieses Kongresszentrums dürfte schleierhaft sein, worum es darin geht. Wie würden Sie den Menschen in Dessau, Ihrem Wahlkreis erklären, worauf man sich hier geeinigt hat?
Lemke: Die Staatengemeinschaft hat es in enorm schweren Zeiten geschafft, einen Schutzschirm für unsere Natur aufzuspannen. Fast 200 Länder haben hier in Montreal klargestellt, dass wir nicht allein auf diesem Planeten leben, dass wir akzeptieren müssen, dass Pflanzen und Tiere Rückzugsräume brauchen, damit die Fäden des Lebens nicht zerreißen. Wir sind auf die Natur angewiesen, sie aber nicht auf uns.
Das klingt schön und wurde schon oft gesagt. Was aber heißt das konkret?
Die Staaten haben sich verpflichtet, mindestens 30 Prozent der Gebiete an Land und auf dem Meer bis 2030 unter effektiven Schutz zu stellen und den Pestizideinsatz zu halbieren. Und weltweit sollen umweltschädliche Subventionen in Höhe von 500 Milliarden Euro abgebaut werden. Außerdem sollen die Industrieländer den armen Ländern des Südens ab 2025 jährlich 20 Milliarden Euro zahlen. So sollen diese Staaten in die Lage versetzt werden, ihre Natur zu schützen und nachhaltig mit ihr umzugehen – gerade in Gebieten, die besonders artenreich sind.
Wenn das Abkommen den Schutz von 30 Prozent der Land- und Meergebiete verlangt – wie stellt man sicher, dass jedes Land seinen Beitrag leistet? Werden sich nicht manche hinter dem Einsatz anderer verstecken?
Es liegt im Interesse aller, die Natur an Land und auf dem Meer zu schützen, denn die Leistungen der Ökosysteme kommen jedem zugute. Wenn es in einem Land viele natürliche Ökosysteme gibt, profitieren vor allem die Menschen in diesem Land. Aber wir profitieren auch global, wie zum Beispiel durch das Reservoir der biologischen Vielfalt oder Ökosystemleistungen wie der Bindung von Kohlenstoff. Und damit sich nicht manche hinter anderen verstecken können, haben wir in Montreal klare Verabredungen zu Monitoring, Berichterstattung und Bilanzierung getroffen. Mithilfe nationaler Berichte wird regelmäßig überprüft, ob die Anstrengungen ausreichen, um den globalen Zielen näher zu kommen.
Lange Zeit war unklar, ob ein Abkommen zustandekommen würde. Warum hat es dann doch geklappt?
Weil der Staatengemeinschaft endlich klar wird, wie dringend und gefährlich das Problem ist, auch für unsere Sicherheit und unsere Ökonomien. Ich hätte nicht gedacht, dass es in einer geopolitisch so extrem schwierigen Situation möglich gewesen wäre, ein so ambitioniertes Abkommen zu schließen. Das ist auch dem großen Engagement vieler Naturschützer zu verdanken, die auch in meinem Ministerium seit Jahren darum ringen, unsere Lebensgrundlagen besser zu schützen – auch wenn das nicht immer populär war.
Lässt sich das Abkommen von Montreal mit dem Erfolg des Pariser Klimaabkommens von 2015 vergleichen?
Die Weltlage ist seit 2015 ungleich schwieriger geworden. Die Krisen haben sich zugespitzt. Dass es trotz einer geopolitisch enorm angespannten Situation möglich war, einen Schutzschirm für die Natur aufzuspannen, ist ein grandioser Erfolg und macht mich wirklich glücklich. Ich würde von einem Montreal-Moment für die Natur sprechen.
Klimaaktivistinnen und Umweltverbände sind nicht so begeistert, sie kritisieren das Ergebnis als zu unverbindlich. Was entgegnen Sie?
Dass wir sehr konkrete Zahlen beschlossen haben: zum Naturschutz, zum Subventionsabbau, zur Pestizidreduktion. Das werden wir jetzt in der EU und in Deutschland umsetzen. So investieren wir in Deutschland mit dem Aktionsprogramm "Natürlicher Klimaschutz" vier Milliarden Euro in den Naturschutz, überarbeiten die nationale Biodiversitätsstrategie und schaffen auf EU-Ebene eine Renaturierungsrichtlinie. Außerdem haben wir vor kurzem verbindliche Regelungen zu entwaldungsfreien Lieferketten vereinbart.
Geschlossen wurde das Abkommen unter chinesischem Vorsitz. Nur wegen der Null-Covid-Politik in dieser Diktatur wurde die Konferenz nach Kanada verlegt. Wie haben Sie China hier wahrgenommen?
Für China war es eine unglaublich schwierige Situation. In wenigen Monaten eine UN-Konferenz in ein anderes Land zu verlegen und zu organisieren, ist enorm anspruchsvoll. Ich habe meinen chinesischen Kollegen gestern beglückwünscht. Die Chinesen haben sehr engagiert gearbeitet und auch Verhandlungsgeschick an den Tag gelegt, mehr als etliche Beobachter anfangs befürchteten.
Was war das Ziel Chinas? Die Xi-Jinping-Diktatur verfolgt ja auch global sehr eigene Interessen.
Ein erfolgreiches Abkommen. Ein Scheitern wäre auch als Scheitern der chinesischen Präsidentschaft wahrgenommen worden.
Um jeden Preis?
Um den Preis, dass wir unsere Natur schützen wollen, dass wir für unsere Kinder und Enkel die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten wollen. Dafür hat China fast 200 Staaten an einen Tisch bekommen. Natürlich hatte jedes Land eine eigene Agenda, auch China.
Kurz vor Schluss wäre das Abkommen fast gescheitert. Staaten wie die Demokratische Republik Kongo und Uganda haben die chinesische Konferenzleitung massiv kritisiert. Hat China die demokratischen Prozesse ausgehebelt, damit auf Biegen und Brechen ein Abkommen gelingt?
China hat das Abkommen im Paket mit anderen Beschlüssen angenommen. Es gab Kritik von der Demokratischen Republik Kongo (DRC) und von Uganda, das stimmt. DRC und China haben sich aber im Abschlussplenum die Hand gereicht und DRC hat deutlich gemacht, dass sie das Abkommen unterstützen.
Kritisiert wurde auch, dass die reichen Länder des Nordens zu wenig Geld auf den Tisch legen müssen. Statt 20 Milliarden sollten es 60 Milliarden jährlich sein. Können Sie das nachvollziehen? Immerhin gibt allein Deutschland für die Zeitenwende der Bundeswehr 100 Milliarden Euro aus.
Ich bin mit dem Versprechen der Bundesregierung nach Montreal gereist, dass Deutschland dem globalen Süden künftig mehr Geld und ab 2025 1,5 Milliarden Euro und zwar pro Jahr für den Naturschutz zur Verfügung stellt. Auch sollen künftig weitere Finanzierungsquellen, wie die internationalen Entwicklungsbanken, verstärkt dazu beitragen. Die EU hat ihre Beitragssumme ebenfalls verdoppelt. Das wurde hier wahrgenommen und hat die Verhandlungserfolge definitiv befördert. Jetzt müssen wir ins Arbeiten kommen und realen Naturschutz betreiben, anstatt noch Jahre darüber zu diskutieren, ob diese Beträge nun ausreichen.
Sie fliegen jetzt mit einem ambitionierten Abkommen nach Deutschland, das vieles enthält, was Sie gut finden – und werden auf Ihre Kabinettskollegen treffen, denen diese Anliegen bislang eher egal waren. Dazu kommen der Bauernverband, die Autoindustrie …
Es geht nicht darum, was ich gut finde oder nicht. Sondern darum, wie wir die Lebensgrundlagen für uns selbst, unsere Kinder und Enkel retten können. Darum geht es im Kern übrigens auch bei den Klimaverhandlungen. Wie sichern wir die Existenz der Menschheit auf diesem Planeten?
Nochmal, wie lässt sich dieses Ziel erreichen, wenn in Ihrer Koalition nicht alle mitziehen?
Zunächst einmal: der Kanzler persönlich hat mit seiner Ankündigung, dass Deutschland künftig mehr Geld zur Verfügung stellt einen wichtigen Beitrag für den Erfolg gelegt. Als Umweltministerin und auch mir persönlich geht es darum, welchen Planeten wir unseren Nachkommen hinterlassen. Dafür bin ich in dieser Regierung, dafür habe ich viele Jahre Umwelt- und Naturschutz betrieben und bin in der DDR gegen Umweltverschmutzung aufgestanden. Wir haben in den letzten Jahrzehnten zu wenige Fortschritte erzielt, wir sind dabei, unsere Erde zu zerstören. So möchte ich nicht von diesem Planeten scheiden. Deswegen ist dieses Abkommen wichtig. Und umso mehr erwarte ich, dass etwa die europäischen Agrarminister jetzt entschieden handeln und Pestizidreduktionen umsetzen. Mein Kollege Cem Özdemir kämpft da bislang eher allein auf weiter Flur.
Wird der deutsche Bauernverband mitmachen?
Ich bin vor wenigen Wochen im Präsidium des Bauernverbandes gewesen, wir haben auch über Pestizide gesprochen. Der Bauernverband ist sich des Problems durchaus bewusst und will an diesem Thema mitarbeiten. Über den Weg werden wir uns sicherlich streiten.
Für mehr Klimaschutz gehen in Deutschland Hunderttausende auf die Straßen. Das große Sterben von Tieren und Pflanzen lässt die Massen unberührt. Hat der Artenschutz ein Vermittlungsproblem?
Wir hatten in Deutschland mehrere Volksbegehren gegen das Artensterben und für den Schutz der Insekten. Unsere Kinder lernen in der Schule biologische Zusammenhänge und wissen, dass für das Bestäuben Insekten zuständig sind und dass wir sie deshalb brauchen. Aber richtig ist auch: Biodiversität ist ein sperriger Begriff und dass es nicht nur um Elefanten, um Bienen, Schneehasen oder Eidechsen geht, wissen viele nicht. Wir müssen mehr über die elementaren Zusammenhänge reden, von denen auch unsere menschliche Existenz abhängt, über die Mikroorganismen, die für die Fruchtbarkeit der Böden und ihre Fähigkeit Wasser zu speichern, so wichtig sind. Es gibt unzählige Beispiele, wie ein intaktes Ökosystem regelrecht ins Rutschen gerät, wenn nur eine Art ausstirbt. Wenn den Menschen bewusster wird, dass wir nicht nur über die Schönheit unberührter Natur und einzelne Arten sprechen, sondern über Existenzfragen, die jede und jeden von uns konkret betreffen, dann wäre das endlich Thema da, wo es hingehört: ganz oben auf der nationalen und internationalen Agenda. Aber Montreal hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet!
Woran hapert es also? Wer blockiert?
Diejenigen, die davon profitieren, dass alles so bleibt, wie es ist. Die nicht bereit sind, wirtschaftliche Produktionsprozesse umzustellen. Und denen es möglicherweise egal ist, wenn Regenwald abgeholzt wird.
Konkreter, bitte.
Ich muss das so allgemein beschreiben, weil es nicht der eine Konzern oder der eine Minister ist, sondern letztlich wir alle. Was ich damit meine: Wir fanden es über Jahrzehnte fortschrittlich und vollkommen normal, Kohle zu fördern und zu verbrennen. Erst die Wissenschaft musste uns sagen, dass wir mit den CO2-Emissionen runtermüssen. Und dann haben wir noch einmal dreißig Jahre gewartet. Letztlich tragen wir alle Verantwortung.
Das Abkommen sieht auch den Abbau der Naturzerstörung durch Steuergelder vor, nämlich durch umweltschädliche Subventionen, etwa für die Kohle. Allein in Deutschland betragen solche Zahlungen oder Vergünstigungen rund 60 Milliarden jährlich. Bislang war die Ampel bei deren Abbau äußerst zurückhaltend.
Für den Schutz von Natur und Artenvielfalt ist die europäische Agrarpolitik die entscheidende Stellschraube. Dort müssen wir die Gelder so umlenken, dass der Landwirt nicht für die Fläche, sondern für die Umweltverträglichkeit seines Wirtschaftens bezahlt wird.
Sie weichen aus. Wir hatten nach deutschen Subventionen gefragt: Was muss die Ampel hier tun?
Es ist im Koalitionsvertrag verabredet worden, überflüssige, unwirksame und umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben im Haushalt abzubauen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat das Bundeskabinett vor wenigen Tagen beschlossen: Jede Haushaltsausgabe soll in Einklang mit den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen gebracht werden. Mit dem Beschluss des Kabinetts kann jetzt der ganze Prozess auf den Prüfstand gestellt werden, von der Aufstellung des Etats über seinen Vollzug bis hin zur Kontrolle der Wirkungen – das betrifft selbstverständlich auch umweltschädliche Subventionen. Ich bin sehr froh darüber, dass das, was wir vom privaten Finanzmarkt bereits verlangen, nämlich die Offenlegung der Wirkung ihrer Finanzentscheidung jetzt auch für den Bundeshaushalt eingeführt wird.
Eine Gefahr für die Artenvielfalt ist auch die Fischerei, eine EU-Angelegenheit. Was muss da passieren?
Wir brauchen so schnell wie möglich eine nachhaltige Fischerei mit strengen Fangquoten und Schutzzonen, damit sich die extrem angeschlagenen Fischbestände erholen können. Auch hier ist die Wissenschaft sehr klar: Wo effektiv gemanagte Schutzgebiete existieren, können sich Ökosysteme und Fischbestände erholen. Davon profitieren Natur und Fischerei gleichermaßen.
Im Wattenmeer gibt es solche Schutzzonen. Was bringen die, wenn dort weiter mit Schleppnetzen gefischt werden darf, die den Meeresboden schädigen?
Genau hier müssen wir nachsteuern. Die Fischerei muss naturverträgliche Fangmethoden einsetzen. Außerdem brauchen wir in ökologisch wichtigen Gebieten auch Ruheräume für die Natur, sogenannte "Nullnutzungszonen".
Nimmt man das in Montreal beschlossene Übereinkommen ernst, müssten sie in der Koalition den Bau von neuen Autobahnen konsequent blockieren. Wie weit wollen Sie in diesem Streit gehen?
In diesem Streit geht es um die Frage, ob wir für den Neubau von Straßen unsere Standards im Umweltschutz und Gesundheitsschutz abbauen, es geht nicht darum den Neubau generell zu verhindern. Aber eine Absenkung von Standards, die ja auch die anwohnenden Menschen schützen, halte ich für falsch. Richtig ist, dass wir marode Brücken schneller sanieren müssen. Da haben wir mit dem Verkehrsministerium bereits gute Lösungen entwickelt, und da unterstütze ich Volker Wissing.
Das war keine Antwort auf die Frage, wie weit Sie gehen wollen. Und wieso hält die Koalition nicht einfach ihre Vereinbarungen zu diesem Thema ein?
Ich habe hier eine Kontroverse mit dem Bundesverkehrsminister und gehe selbstverständlich davon aus, dass der Koalitionsvertrag die Leitplanken zur Lösung liefert. Ich setze dabei aber auf das Gespräch mit meinem Kollegen und das führe ich intern. Wir leben in einer Welt, in der das Pariser Klimaschutz-Abkommen über Jahre nicht ausreichend umgesetzt wurde. Das neue Naturabkommen stärkt mir gewiss den Rücken. Aber es löst definitiv nicht alle Konflikte in dieser Koalition und auch nicht alle Probleme, die wir bei der Nutzung unserer Lebensräume haben.
Welche Verbündete haben Sie überhaupt für Ihre Anliegen in dieser Koalition? Der Bundeskanzler reagiert auf den Umweltschutz eher verhalten, der Verkehrsminister will neue Autobahnen – und selbst Ihr Parteikollege Robert Habeck hat beim Umweltrecht schon das Brecheisen angesetzt.
Ich denke, dass die Menschen in unserem Land in einer intakten Natur leben möchten und sich dafür auch Tausende engagieren. Robert Habeck und ich haben den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt, damit wir unsere Klimaschutzziele nach Möglichkeit einhalten können. Mit Cem Özdemir habe ich eine Hausfreundschaft zwischen unseren Ministerien begründet, um zu einer nachhaltigen Landwirtschaft zu kommen. Auch Annalena Baerbock trägt den Schutz von Klima und Umwelt in internationale Verhandlungen und mit dem Entwicklungshilfeministerium arbeiten wir bei sehr vielen Projekten eng zusammen. Aber in der Tat, für den Verkehrsbereich gibt es noch Spielraum. .
Jochen Flasbarth, der Staatssekretär im Entwicklungsministerium, der lange Ihr Haus prägte, stahl Ihnen hier in Kanada manchmal die Show. Im Auftrag der chinesischen Präsidentschaft vermittelte er bei den heiklen Finanzierungsfragen, wurde gar irrtümlich als Minister bezeichnet. Nervt Sie das?
Warum sollte es? Ich habe ihn doch selber gebeten, uns zu unterstützen. und habe ihn der chinesischen Präsidentschaft als „Fazilitator“, also Vermittler, vorgeschlagen, weil ich um sein großes Fachwissen und seine gute Vernetzung hier auf internationaler Ebene weiß. Und ich bin ihm dankbar, dass er das so gut gemacht hat.
Wovon werden Sie einmal Ihren Enkeln erzählen, wenn Sie sich an Montréal erinnern?
Von der ungeheuren Energie und dem Engagement für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Und von den Treffen mit den vielen Umweltministerinnen und Umweltministern, die ich im ersten Jahr meiner Amtszeit kennenlernen durfte. Und hoffentlich davon, dass Montreal damals der Beginn der internationalen Wende war hin zu einer Politik mit und nicht gegen die Natur, der Anfang eines großen Politikwechsels.
Frau Lemke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.