t-online: Frau Lemke, jeden Tag verschwinden 150 Tier- und Pflanzenarten für immer von der Erdoberfläche. Wieso interessiert das anscheinend niemanden?
Steffi Lemke: Ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass das schwer verständlich ist. Im Gegensatz zur Klimakrise merken wir das Artenaussterben bisher nicht so direkt. Die Erderhitzung hat in Deutschland inzwischen spürbare Konsequenzen: Seen oder Flüsse aus Kindheitstagen trocknen aus, Waldbrände hinterlassen verkohlte Landschaften, und Hitzewellen setzen vor allem älteren Menschen schwer zu. Dass immer mehr Lebewesen verschwinden, merkt man hingegen im Alltag kaum. Vielleicht am Rande, weil es weniger Vögel in den Wäldern und weniger Insekten im Garten gibt. Aber das ist für viele noch kein Alarmsignal.
Für Sie schon.
Natürlich. Das weltweite Artenaussterben bedroht die Existenz der Menschheit. Und das ebenso stark wie die Klimakrise. Die Sichtbarkeit und direkte Betroffenheit setzt aber erst später ein. Gleichzeitig gibt es auch bei uns viele Menschen, die sich große Sorgen um die schleichende Naturzerstörung machen und dafür auf die Straße gehen.
Umweltverbände und Wissenschaftler sprechen vom größten Massensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Wäre es nicht Ihre Aufgabe, dem Artenschutz mit so klaren Worten mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen?
Das mache ich jeden Tag. Aber der Glaube, wir könnten die Natur weiter so ausbeuten wie in den letzten Jahrzehnten, sitzt bei manchen offensichtlich sehr tief. Die persönliche Wahrnehmung und die reale Bedrohung durch die Naturzerstörung klaffen sehr weit auseinander. Vor den Dürresommern der vergangenen Jahre und der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal gab es auch noch nicht die Aufmerksamkeit für die Klimakrise, die wir jetzt haben. Es wäre schlimm, wenn es auch beim Naturschutz erst so weit kommen muss, dass uns die Zerstörung der Natur hier in Deutschland massiv trifft.
Was könnte das sein?
Als studierte Agrarwirtin sorge ich mich zum Beispiel um das Verschwinden der Arten in den Böden, auf denen unsere Lebensmittel wachsen. Wenn es immer weniger Würmer, Käfer und andere Bodenlebewesen gibt, verlieren unsere Böden ihre Fruchtbarkeit. Bauern würden noch größere Probleme haben, über die Runden zu kommen. Das würden wir auf dem Teller merken. Wir müssen das Ruder rumreißen, bevor es zu spät ist. Wir dürfen aber nicht nur auf das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten schauen, sondern müssen auch die dahinterliegende Zerstörung von Lebensräumen und Ökosystemen sehen. Und die hat weltweit so dramatische Folgen, dass selbst das Weltwirtschaftsforum in Davos die Naturkrise als eines der größten Risiken für die Wirtschaft einstuft.
Sie wollen ein "Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz" auflegen, um gleichzeitig Artensterben und Klimakrise aufzuhalten. Dafür gibt es vier Milliarden Euro – verglichen mit dem 100 Milliarden schweren Sonderetat für die Bundeswehr fast nichts. Wie sehr schmerzt Sie diese Priorisierung?
Das Wichtigste ist: So viel Geld gab es für den Naturschutz in Deutschland noch nie. Mit den vier Milliarden Euro bis 2026 wollen wir die vorhandene Natur besser schützen und geschädigte Ökosysteme wiederherstellen. Außerdem stellen wir jährlich 1,5 Milliarden Euro für den internationalen Naturschutz zur Verfügung.
Mit dieser Zahl im Gepäck reisen Sie kommende Woche selbst zur Weltnaturschutzkonferenz nach Montreal. Ist das Deutschlands ganzer Beitrag zur Rettung der Natur weltweit?
Wir verdoppeln die Mittel für die internationale Biodiversität bis 2025, das ist ein starkes Zeichen. Ob wir noch mehr Geld mobilisieren können, hängt auch davon ab, ob wir in den kommenden zwei Wochen bei der Konferenz ein ambitioniertes globales Abkommen hinbekommen. Mit Geld allein ist es aber nicht getan. Es kommt auch auf die Qualität der vereinbarten Ziele und Umsetzungsmechanismen an.
Das heißt?
Beispielsweise soll bis 2030 knapp ein Drittel aller Land- und Meeresflächen auf der Welt unter Schutz stehen. Dafür braucht es aber auch verbindliche Kriterien – Nationalparks, die nur auf dem Papier existieren, reichen nicht.
Dass die UN-Klimaziele einigermaßen ambitioniert sind, liegt auch daran, dass es viel Anschub von Staats- und Regierungschefs gab. Zur Weltnaturschutzkonferenz reist kein einziger an. Ist der Artenschutz dem Bundeskanzler nicht sexy genug?
Olaf Scholz wäre bereit gewesen, nach Kanada zu fliegen. Es wird jedoch kein Treffen von Staatschefs geben, da die chinesische Präsidentschaft es mit den wenigen Monaten Vorlauf nicht für machbar hielt, eine solche Runde zu organisieren. Sie haben aber durchaus recht, dass es noch immer Akteure gibt, die Artenschutz für Gedöns halten.
Zehn Jahre hätte die Welt gehabt, um die jüngst ausgelaufenen globalen Artenschutzziele zu erreichen. Geklappt hat das bei null von 20 Zielen. Wieso sollte ein neues Abkommen erfolgreicher sein?
Erst mal müssen wir es schaffen, überhaupt eine Vereinbarung auf die Beine zu stellen. Die Zeiten für globale Abkommen sind denkbar schlecht aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Andererseits ist der Problemdruck riesengroß. Die Zerstörung der Natur bedroht weltweit unsere Lebensgrundlagen. Ich weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, die deshalb ebenfalls mit Wut über die verlorene Zeit und mit sehr großem Willen, es anders zu machen, zur Konferenz reisen.
Für verpasste Ziele muss man gar nicht aus Deutschland weg. Zwei Prozent der Landesfläche sollten hier längst als "Wildnisgebiete" besonders geschützt sein. Aktuell sind es 0,6 Prozent.
Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, zwei Prozent unserer Flächen der Wildnis als Überlebens- und Regenerationsräume zu überlassen, in die wir nicht eingreifen. Deshalb werden wir mit den Bundesländern gemeinsam nach besseren Wegen suchen, als sie die Vorgängerregierung gefunden hat. Das ist zu schaffen.
Auch in Bayern? Da gab es bisher besonders heftigen Widerstand gegen solche Schutzgebiete.
Bayern will nicht als Bremsklotz beim Naturschutz dastehen, da bin ich mir fast sicher. Nicht zuletzt, da der Artenschutz sicher auch Thema bei den anstehenden Landtagswahlkämpfen sein wird. Gerade in Bayern hat das Volksbegehren für mehr Artenvielfalt gezeigt, dass es wirklich sehr vielen Menschen wichtig ist, die Natur für unsere Kinder und Enkel zu bewahren.
Ein Zuwachs an Schutzgebieten bedeutet aber auch, dass stärker abgewogen werden muss, wo neue Stromtrassen oder Windkraftanlagen entstehen können. Wie wollen Sie den Konflikt zwischen Artenschutz und Energiewende ausräumen?
Die beiden existenziellen ökologischen Krisen – Klimakrise und Krise des Artenaussterbens – sind so eng miteinander verbunden, dass wir sie gleichzeitig lösen müssen. Und wir müssen klar vermitteln: Nicht der Ausbau der erneuerbaren Energien treibt das massenhafte Aussterben und Abwandern von Tieren und Pflanzen an, sondern der Autobahn- und Flughafenbau, die Versiegelung der Böden und Zersiedelung der Landschaft, und auch die intensive Agrarwirtschaft. Gerade die Subventionen in der Landwirtschaft haben jahrzehntelang genau die falschen Anreize gesetzt. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und ich brechen dieses System jetzt Stück für Stück auf.
Das stärkste Steuerungsinstrument für die deutsche Landwirtschaft ist der EU-Fördertopf für "Gemeinsame Agrarpolitik". Ab 2023 sind fast alle Gelder an Umweltschutzmaßnahmen gekoppelt. Einige Kritiker sprechen von einem "Bauernvernichtungsprogramm". Ist das unfair?
Wir graben uns doch selbst das Wasser ab, wenn wir so weitermachen wie bisher, insbesondere in der Landwirtschaft. Da ist es doch logisch, dass der Pestizideinsatz runter und die Zahl der Rückzugsräume für gefährdete Arten hoch muss, dass es statt Monokulturen eine Anbaudiversifizierung braucht. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat eine Vision für zukunftsfähige artenfreundliche Landwirtschaft entwickelt, die das finanzielle Auskommen der Bauern langfristig sichern kann. Dies umzusetzen, packen wir jetzt an, in Deutschland und auf EU-Ebene.
Wie wollen Sie die Landwirte dafür gewinnen?
Die Bauern sind jahrzehntelang durch ökonomische Zwänge in ein System gepresst worden, das vielfach auf Maximierung getrimmt war. Wer finanziell überleben wollte, musste sich anpassen. Diese Intensivierung der Landwirtschaft droht der Artenvielfalt in den Agrarlandschaften jetzt das Genick zu brechen. Wir diskutieren intensiv mit den Landwirten, wie wir dieses System gemeinsam ändern. Aber es braucht verdammt viel Kraft, um so tief eingefahrene Fahrwege zu verlassen.