Merkel: - Transportstopp gilt fort - Gesundheitsgefährdungen ausgeschlossen - Eingeleitete Maßnahmen werden zügig umgesetzt
"Ich habe heute dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages einen zweiten Bericht über den Stand unserer Erkenntnisse im Zusammenhang mit kontaminierten Transportbehältern und Waggons für bestrahlte Brennelemente erstattet und über die weitere Umsetzung des 10-Punkte-Plans informiert. Danach ist klar: Erstens, nicht das Bundesumweltministerium, wohl aber einzelne Länderaufsichtsbehörden bzw. von ihnen beauftragte Sachverständige haben vor dem 24. April 1998 von konkreten Grenzwertüberschreitungen bei Transporten von und nach Frankreich gewußt. Zweitens, die festgestellten Kontaminationen verursachten keine Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung und das Begleitpersonal. Dies wird durch eine Stellungnahme der Strahlenschutzkommission, aber auch durch die Auswertung der Inkorporationsmessungen des mit der Handhabung von Transportbehältern befaßten Personals und durch Ganzkörpermessungen der Mitarbeiter des Eisenbahnbundesamtes untermauert. Drittens gilt der Transportstopp auf der Grundlage der Mitteilung des Bundesumweltministeriums vom 20. Mai 1998 an die Energieversorgungsunternehmen und die NCS fort. Behauptungen einzelner Bundesländer, diese Maßnahme sei unzureichend, sind falsch," erklärte Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel heute im Anschluß an die Sitzung des Umweltausschusses.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel hat im Ministergespräch am 02.Juni 1998 die Landesaufsichtsbehörden aufgefordert, alle Meßprotokolle in den Kernkraftwerken aus den vergangenen Jahren auszuwerten und offenzulegen. Dadurch wurde bekannt, daß nicht nur Kontaminationen bei Transporten von Deutschland nach Frankreich sondern auch bei in den Kernkraftwerken eingehenden Leertransporten gemessen wurden.
Diese Erkenntnisse belegen, daß radioaktive Verschmutzungen eingehender Transporte in den deutschen Kernkraftwerken gemessen worden sind und diese Messungen den Landesaufsichtsbehörden zugänglich waren. In einigen Bundesländern steht inzwischen fest, daß die Aufsichtsbehörden Kenntnis von solchen Vorgängen hatten. In Hessen ist 1989 eigens ein Auftrag an den TÜV erteilt worden. Welchen Wissensstand die hessische Behörde bei der Erteilung des Auftrages seinerzeit hatte, vermag sie derzeit angesichts offenbar unvollständiger Akten nicht "einzuordnen". Die PreussenElektra berichtet, daß im KKW Grohnde der behördliche Sachverständige in mindestens zwei Fällen Kenntnis von der Kontamination eingehender Transporte hatte. Die PreussenElektra behauptet darüber hinaus, in die Bearbeitung solcher Vorkommnisse sei eine Vielzahl von Personen und Institutionen eingeschaltet gewesen. Die schleswig-holsteinische Aufsichtsbehörde hat inzwischen eingestanden, daß sie in zwei Fällen (1994 und 1996) Kenntnis von der Kontamination eingehender Transporte hatte.
Der Bund ist in keinem dieser Fälle unterrichtet worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat er nicht die sogenannte Wahrnehmungskompetenz, d.h. er kann nicht selbst in den Kernkraftwerken Ermittlungen anstellen. Deshalb kann der Bund nur das wissen, was ihm die Landesaufsichtsbehörden berichten. Die dem Bund zugänglichen Erkenntnisse beziehen sich ausschließlich auf Vorkommnisse auf dem Schienenweg. Das aufsichtführende Eisenbahnbundesamt konnte aber wegen der Unzugänglichkeit Grenzwertüberschreitungen an den kritischen Stellen nicht messen.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Wie widersprüchlich die Argumentation und das Vorgehen einer Landesaufsicht sein kann, zeigt das Beispiel Niedersachsens. Am 29. Mai erklärt der Staatssekretär im niedersächsischen Umweltministerium Schulz vor der Landespressekonferenz in Hannover, daß die Landesaufsicht alles hätte wissen müssen, aber leider nichts gewußt habe. Gleichzeitig wirft er dem Betreiber PreussenElektra die Fälschung von Meßprotokollen vor. Diesen Vorwurf muß er eine Stunde später zurücknehmen. Anfang Juni erklärt die PreussenElektra, daß die Landesaufsicht zumindest von zwei Messungen im Kernkraftwerk Grohnde Kenntnis haben muß. Umweltminister Jüttner weist dies dann zurück mit dem Hinweis, der vom Ministerium beauftragte TÜV habe es zwar gewußt, an seinen Auftraggeber aber nicht weitergegeben. Das ist ein ungewöhnlicher Vorgang, wenn man weiß, daß beauftragte Gutachter der verlängerte Arm der behördlichen Aufsicht sind. Wenig später kündigt er an, die Betreiber von niedersächsischen Kernkraftwerken einzubestellen und hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit zu überprüfen. Aber schon am 09.06.1998 greift er auf einer in Bonn einberufenen Pressekonferenz seine hessische Kollegin an, sie würde mit ihren Ankündigungen zur Zuverlässigkeitsprüfung Erwartungen wecken, die sich hinterher rechtlich nicht halten ließen. Am 15.06.1998 teilt er schließlich mit, Niedersachsen erteile vorerst keine AKW-Genehmigungen. Die einzig anstehende Genehmigung betrifft allerdings eine rein formale Angelegenheit, nämlich die Übertragung der Betriebsgenehmigungen für niedersächsische Kernkraftwerke von der Muttergesellschaft PreussenElektra auf eine neu gegründete Tochter. Nicht vordergründiger Aktionismus sondern systematische Aufklärung der Sachverhalte und Lösungen der Probleme sind das Gebot der Stunde. Deshalb werde ich die von mir mit dem 10-Punkte-Plan eingeleiteten Maßnahmen zur Aufklärung der Tatsachen, zur Ursachenklärung und zur Behebung des Problems konsequent weiterverfolgen und umsetzen."
Strahlenschutz
Das Bundesumweltministerium hat die mögliche Strahlenbelastung von Personen durch kontaminierte Behälter und Waggons auf der Grundlage der bis jetzt vorliegenden Meßdaten erneut berechnet. Die höchste mitgeteilte punktförmige Radioaktivitätsmenge betrug danach auf einem im Kernkraftwerk Grohnde ankommenden Waggon 23.000 Becquerel (Bq).
Wie auch bei den Transporten nach Frankreich waren die Kontaminationen der im Kraftwerk ankommenden Behälter und Waggons nicht zugänglich und somit eine direkte Bestrahlung und auch Berührung während des Transportes ausgeschlossen. An den Außenflächen der Abdeckhauben und außen am Waggon wurden keine unzulässigen Kontaminationen festgestellt.
Nimmt man dennoch den unwahrscheinlichen Fall an, daß eine Person mit dieser festgestellten höchsten Kontamination in Berührung kommen und die gesamte Radioaktivitätsmenge in den Körper gelangen würde, betrüge die entstehende Strahlenbelastung etwa 40% der natürlichen jährlichen Strahlenbelastung, die in Deutschland bei durchschnittlich 2,4 Millisievert liegt.
Die Länder haben auf unsere Bitte hin mitgeteilt, daß keine Auffälligkeiten bei Inkorporationsmessungen des mit der Handhabung der eingehenden Behälter und Transportmittel sowie mit der Beladung und Dekontamination einschließlich Ausgangsmessung der Behälter befaßten Personals in den betroffenen Kernkraftwerken festgestellt worden sind. Am 08.06.1998 wurden aus arbeitsmedizinischen Gründen Ganzkörpermessungen der Mitarbeiter des Eisenbahnbundesamtes, die Messungen an Brennelementtransporten vorgenommen haben, durchgeführt. Die Mitarbeiter wurden im Body-Counter des Forschungszentrums Karlsruhe untersucht. Dabei wurden keine Inkorporationen künstlicher Radionuklide festgestellt. Die Nachweisgrenzen für Caesium 137 und Kobalt 60 betragen 30 Bq bzw. 50 Bq Ganzkörperaktivität.
Diese Feststellungen decken sich mit den Bewertungen der Strahlenschutzkommission in ihrer Stellungnahme vom 03.06.1998, wonach eine Gesundheitsgefährdung auszuschließen ist.
Dieses Ergebnis ist insbesondere vor dem Hintergrund der nach wie vor vorhandenen Verunsicherung vieler Polizisten von großer Bedeutung. Die Strahlenschutzkommission hat die Sorgen, die sich viele Polizisten in diesem Zusammenhang über mögliche gesundheitliche Gefahren machen, zum Anlaß genommen, eine Veranstaltungsreihe anzubieten, mit der insbesondere Polizeieinsatzkräften Wirkung und Risiken der Strahlung durch Transporte bestrahlter Brennelemente aufgrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse eingehend erläutert werden sollen.
Transportstopp
Das Bundesumweltministerium hält an dem am 20. Mai 1998 verhängten Transportstopp für abgebrannte Brennelemente fest, bis die Ursachen für die aufgetretenen Grenzwertüberschreitungen festgestellt und mögliche Abhilfemaßnahmen durch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) positiv beurteilt sind. Grundlage ist eine Mitteilung des Bundesumweltministeriums an die Energieversorgungsunternehmen und den Transporteur, der diese zugestimmt haben. Eine Anordnung zum Transportstopp oder der Erlaß eines anderen Verwaltungsaktes waren weder erforderlich noch angezeigt. Das gewählte Vorgehen stellt eine effektive, schnelle und verwaltungspraktische Lösung dar und hat gegenüber dem Erlaß eines Verwaltungsaktes den Vorteil, daß zunächst eine Möglichkeit der Anfechtung nicht besteht. Bei einer Nichtbefolgung der Selbstverpflichtung durch die Betreiber bestünde immer noch die Möglichkeit einer Anordnung bzw. einer Rücknahme oder eines Widerrufs der entsprechenden Transportgenehmigung.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Versuche, besonders der hessischen Aufsichtsbehörde, sich in Kompetenzen des Bundes einzumischen, wird das Bundesumweltministerium nicht zulassen. Dieses Vorgehen entbehrt jeder Notwendigkeit und soll letztlich nur dazu dienen, den Bund erneut zu zwingen, gegen rechtswidriges Verhalten einzuschreiten."
Technischer Kenntnisstand
Beim gegenwärtigen Stand der Untersuchungen ist es noch nicht möglich, belastbare Aussagen zu den Ursachen der Kontaminationen und zu möglichen Abhilfemaßnahmen zu treffen. Festzuhalten ist, daß ein hoher Prozentsatz der Transporte keine Beanstandungen aufwies.
Es zeichnet sich ab, daß verschiedene Behälterkonstruktionen unterschiedliche Anfälligkeit für Kontaminationen aufweisen. Es bestehen Unterschiede in den Beladeprozeduren, in den Konta-minationsschutzmaßnahmen, den Dekontaminationsmaßnahmen und bei der Kontaminations-überwachung in den Kernkraftwerken, die in Bezug auf ihren Einfluß zu untersuchen sind. Im selben Sinne sind die Entlade- und Handhabungsvorgänge beim Wiederaufarbeiter näher zu betrachten.
Der Vorwurf, das Bundesumweltministerium habe aufgrund seiner Beteiligung am internationalen Erfahrungsaustausch über die Beförderung radioaktiver Stoffe Kenntnisse von den aufgetretenen Grenzwertüberschreitungen haben müssen, ist nicht berechtigt. Seit den 70er Jahren wurde gelegentlich bei sehr langen Transportwegen, z. B. aus Japan, eine nachträglich auftretende Konta-mination am Transportbehälter bei der Beförderung bestrahlter Brennelemente beobachtet. Berichte über diesen Effekt sind in die Safety Series Nr. 37 der IAEO eingeflossen. Darauf hat das Bundesumweltministerium bereits in seinem ersten Bericht an den Umweltausschuß hingewiesen. Dieses in den 70er und Anfang der 80er Jahre beobachtete Phänomen des "Ausschwitzens bzw. weeping" kann die Überschreitungen der Kontaminationsgrenzwerte, wie sie von der französischen Behörde DSIN am 24.04.1998 mitgeteilt wurde, nicht erklären. Beim Ausschwitzen handelt es sich eindeutig um einen Flächeneffekt. Die in der Umladestation in Valognes festgestellten "hot-spots" sind flächenmäßig eng begrenzte Kontaminationen mit höheren Aktivitätswerten. Auch die von der Europäischen Union gegründete "Ständige Arbeitsgruppe zum sicheren Transport radioaktiver Stoffe" hat sich nicht mit diesem Phänomen befaßt. Dies belegen Protokolle wie Forschungsberichte.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Ich möchte mich, auch im Namen meiner Mitarbeiter, gegen die ständigen Unterstellungen, nicht die Wahrheit zu sagen, verwahren. Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, daß einige Länderaufsichtsbehörden Kenntnis von einzelnen Grenzwertüberschreitungen hatten und damit offenbar wird, daß dort die Tragweite dieses Wissens nicht erkannt wurde, läßt sich daraus kein Gesamturteil über die Qualität der Atomaufsicht in Deutschland ableiten. Sowohl die Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums als auch die Beamten in den Aufsichtsbehörden der Länder tragen dazu bei, daß die Sicherheit der Kernkraftwerke in Deutschland ein international vorbildliches Niveau hat."
Am gestrigen Abend hat ein Gespräch zwischen Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel und den Vorsitzenden der Vorstände der Energie Baden-Württemberg, RWE, VEBA und VIAG stattgefunden. Es ging dabei um eine Bewertung der durch die Vorfälle ausgelösten Vertrauenskrise zwischen Wirtschaft, Bevölkerung und Politik. Die Unternehmen haben die Verantwortung für die entstandene Situation übernommen. Sie haben für die Diskussion des weiteren Vorgehens den Vorsitzenden der Vorstands der Bayernwerk AG benannt.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel wird mit ihrer französischen Kollegin Dominique Voynet Anfang Juli die Umladestation in Valognes und die Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague besuchen und sich über die in Frankreich getroffenen Maßnahmen informieren.