Mit der Entscheidung zum Ausstieg aus der Atomenergie hat Deutschland nach Ansicht von Bundesumweltminister Jürgen Trittin die wichtigste Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gezogen. "Wenn auch verspätet, so hat sich die Bundesrepublik seit 1998 europäischen Nachbarn wie Österreich, Italien und Schweden angeschlossen und das Ende des Atomkraftzeitalters eingeleitet. Mit dem im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Energiewirtschaft getroffenen Atomkonsens steht der Fahrplan für ein sicheres und geordnetes Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland," sagte er heute in Berlin anlässlich des 15. Jahrestages des Reaktorunglücks von Tschernobyl am morgigen Donnerstag.
Beim Atomausstieg in Deutschland sind nach Auffassung von Trittin praktische Fortschritte zu verzeichnen: Die Genehmigungsverfahren zum Bau von Zwischenlagern an den Kraftwerksstandorten sind angelaufen. Mit dem Konzept der dezentralen Zwischenlagerung und dem Verbot von Transporten in die Wiederaufarbeitung ab 2005 wird die Zahl der Atomtransporte auf ein Drittel des bisherigen Umfangs reduziert. Damit werden Atomtransporte nach Ahaus, Gorleben und in die Wiederaufarbeitung künftig überflüssig. "Wir beenden den Atommülltourismus quer durch Deutschland und Europa," sagte Trittin.
Als weitere Beispiele nannte der Minister den Stilllegungsantrag der Betreiber für das AKW Mülheim-Kärlich und die Ankündigung von eon, das AKW Stade 2003 vorfristig vom Netz zu nehmen. Mit dem Baustopp in Gorleben hat die Bundesregierung die politische Vorfestlegung auf ein Endlager im Wendland aufgehoben und ein ergebnisoffenes Verfahren zur Standortauswahl eingeleitet. "Die Uhr der Atomkraftnutzung in Deutschland läuft rückwärts", sagte der Minister. Deutschland sei auf dem besten Weg, die technologische Sackgasse Atomenergie zu verlassen und schrittweise eine neue Energiestruktur aufzubauen. Beleg dafür sei auch der Aufschwung, den die erneuerbaren Energien in letzten Jahren genommen haben. Die Bundesrepublik ist heute vor den USA "Windkraftweltmeister". Mehr als die Hälfte des Windstroms in Europa und mehr als ein Drittel der Weltproduktion dieser Energieform werden in Deutschland erzeugt.
Tschernobyl stehe aber nicht nur für einen energiepolitischen Irrweg, sondern vor allem auch für die unkalkulierbaren Risiken der Atomkraft sowie die verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt, so Minister Trittin. Im Falle von Tschernobyl seien die Folgen bis heute nicht bewältigt. In den unmittelbar betroffenen Staaten sei ein dramatischer Anstieg von Schilddrüsenerkrankungen vor allem bei Kindern zu verzeichnen. Riesige Landstriche blieben für lange Zeit unbewohnbar und nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar. Noch immer würden Millionen von Menschen in verstrahlten Gebieten leben oder hätten umgesiedelt werden müssen. "Die Atomkraft hat unvorstellbares Leid über Generationen von Menschen gebracht. Das mit dieser Technologie verbundene Risiko ist ein Preis, den wir und die Regierungen zahlreicher anderer Länder nicht zu zahlen bereit sind," sagte der Minister.
Er verwies zugleich darauf, dass die Bundesregierung der Ukraine seit 1986 Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen des Reaktorunglücks und bei der Minderung bzw. Beseitigung nuklearer Risiken geleistet lassen hat und dies auch weiter tun werde. Allein mit über 80 Millionen Dollar beteilige sich die Bundesrepublik im Rahmen der G-7-Staaten an der dringend notwendigen Erneuerung des Sarkophags und der geordneten Stilllegung der Blöcke 1 bis 3. Der letzte in Betrieb befindliche Block 3 wurde Ende 2000 endgültig abgeschaltet. Darüber hinaus sei Deutschland im Rahmen der energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine bereit, an der Erarbeitung umweltverträglicher und zukunftsfähiger Lösungen für die Energieversorgungsprobleme des Landes mitzuwirken, betonte Minister Trittin.