Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel legt 10-Punkte-Plan vor

25.05.1998
Hinweis: Dieser Text stammt aus dem Pressearchiv.
Veröffentlicht am:
Laufende Nummer: 35/98
Thema: Klimaschutz
Herausgeber: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Leitung: Angela Merkel
Amtszeit: 17.11.1994 - 27.10.1998
13. Wahlperiode: 17.11.1994 - 27.10.1998

"Das Bundesumweltministerium hat die Erkenntnisse über Grenzwertüberschreitungen bei Transporten von abgebrannten Brennelementen nach entsprechenden Informationen aus Frankreich selbst aufgedeckt und veröffentlicht. Es steht fest, daß die Transporte zur COGEMA in La Hague zu keinem Zeitpunkt eine gesundheitliche Gefahr für die Bevölkerung oder das Personal bedeuteten. Gleichwohl sind die Vorgänge um die bestrahlten Brenn-elementtransporte nach Frankreich nicht zu akzeptieren. Wir müssen deshalb unsere Aufklärungsarbeiten weiter vorantreiben und so schnell wie möglich zu Ergebnissen kommen. Heute lege ich einen 10-Punkte-Plan unserer nächsten Schritte und Maßnahmen vor." Dies erklärte Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel in einer Zwischenbilanz zu den bisherigen Ermittlungen im Zusammenhang mit den kontaminierten Brennelementtransporten heute in Bonn.

I. 10-Punkte-Plan der nächsten Schritte und Maßnahmen

  1. Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) wurde beauftragt, den technischen Sachverhalt zu untersuchen und schnellstmöglich eine erste Zwischenbilanz vorzulegen. Sie soll die konkreten und dem Bundesumweltministerium seit dem 24.04.1998 bekannten Vorkommnisse rückhaltlos aufklären.
  2. Die Prüfung der Einhaltung der Grenzwerte durch entsprechende Meßkontrollen ist Aufgabe der Länder-Aufsichtsbehörden und des Eisenbahnbundesamtes. Sollte der GRS-Bericht zu dem Ergebnis kommen, daß es etwa Defizite bei der Durchführung der geltenden Kontrollmessungen gibt, müssen Konsequenzen gezogen werden.
  3. Bei den Meldewegen müssen die aufgetretenen Mängel beseitigt werden. Es muß sicher sein, daß bei Transporten Kontaminationen, wo und wann auch immer sie auftreten und gemessen werden, allen zuständigen Behörden mitgeteilt werden. Das Bundesumweltministerium weist das Bundesamt für Strahlenschutz deshalb an, künftig in allen Genehmigungen durch Auflagen sicherzustellen, daß entsprechende Rückmeldungen der Energieversorgungsunternehmen bzw. KKW-Betreiber an die deutschen Aufsichtsbehörden (Länderbehörden und Eisenbahnbundesamt) erfolgen.
  4. Auf dem morgigen deutsch-französischen Umweltrat wird das Bundesumweltministerium sich für eine vertiefte Zusammenarbeit im Bereich des Informationsaustausches einsetzen. Es geht vor allem darum, daß die zuständigen französischen Behörden die deutschen Aufsichtsbehörden informieren, sobald auf französischem Hoheitsgebiet erhöhte Kontaminationen an deutschen Brennelementtransporten festgestellt werden. Einen entsprechenden Vorschlag soll eine gemeinsame deutsch-französische Arbeitsgruppe vorlegen, die ihre Arbeiten in Kürze aufnehmen wird. Eine vergleichbare Zusammenarbeit wird auch mit Großbritannien angestrebt.
  5. Mit Blick auf die Transportbereitstellung sind die für die Aufsicht über die Kernkraftwerke zuständigen Länder durch das Bundesumweltministerium aufgefordert, kurzfristig eine Überprüfung der inneren Organisationsstruktur in den Kernkraftwerken selbst zu veranlassen. Hierüber wird das Bundesumweltministerium mit den Ländern auf hochrangiger Ebene Gespräche führen. Es darf nicht sein, daß die Fachebene der EVU von den konkreten Grenzwertüberschreitungen der Brennelementtransporte wußte, diese Kenntnis aber nicht an die Betriebsleitung weitergegeben hat. Deshalb muß der Nachweis geführt werden, daß sich die aufgetretenen Unzulänglichkeiten nicht wiederholen können.
  6. Die Aufgaben- und Verantwortungsstruktur des Transportsystems muß verändert werden. Das Bundesumweltministerium hat die deutschen EVU aufgefordert, unverzüglich ein belastbares neues Organisationskonzept vorzulegen. Erforderlich sind klare Strukturen mit klaren Aufgabenzuweisungen. Hierzu gehört eine eindeutige Trennung der Verantwortung zwischen dem absendenden KKW, dem Beförderer und dem Empfänger. Ferner ist zu gewährleisten, daß künftig für die Durchführung des Transports nicht mehr mehrere Unternehmen nebeneinander zuständig sind, sondern nur einer die maßgebliche Verantwortung trägt.
  7. Neben organisatorischen Verbesserungen sind auch weitere technische Maßnahmen erforderlich, damit es nicht mehr zu einer Überschreitung der zulässigen Grenzwerte kommen kann. Die bisher von den EVU hierzu vorgelegten Vorschläge reichen nicht aus. Das Bundesumweltministerium fordert die EVU auf, weitergehendere Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten.
  8. Alle seit 1995 in Deutschland vorgenommenen Messungen von Brennelementtransporten durch das Eisenbahnbundesamt werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und ausgewertet. Ferner werden die Landesaufsichtsbehörden gebeten, ebenfalls ihre Meßprotokolle zum Zwecke der Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.
  9. Das Bundesumweltministerium hat das Eisenbahnbundesamt gebeten zu prüfen, ob rechtliche Schritte gegen Verantwortliche einzuleiten sind.
  10. Solange die Ursache des konkret festgestellten Kontaminationsproblems nicht vollständig geklärt ist und solange das mit Frankreich, Großbritannien und den Energieversorgungsunternehmen in Deutschland festzulegende Informationssystem nicht eingeführt und funktionstüchtig ist, gilt der vom Bundesumweltministerium verhängte Stop von Transporten bestrahlter Brennelemente ins Ausland und im Inland fort.

 

 

II. Sachstand

  1. 1997/98 wurden bisher insgesamt 68 Transporte mit abgebrannten Brennelementen von deutschen Kernkraftwerken nach La Hague durchgeführt. In 16 Fällen sind an einigen Stellen (13 Bodenwannenkontaminationen und 3 Behälterkontaminationen) erhöhte radioaktive Kontaminationen aufgetreten (über dem Grenzwert von 4 Bq/cm²). Die französischen Behörden haben darüber hinaus bestätigt, daß in Frankreich bei Transporten, die von französischen Kernkraftwerken stammen, auch Kontaminationen an der Außenabdeckung der Eisenbahnwaggons festgestellt wurden. Dies bezieht sich allerdings nur auf französische Transportvorgänge. In die britische Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield sind 1997/98 bisher insgesamt 50 Transporte aus deutschen Kernkraftwerken verbracht worden. Aus Großbritannien liegen aber bisher noch keine offiziellen Behördenmitteilungen über erhöhte Kontaminationen bei Brennelementtransporten aus Deutschland vor. Nach Angaben der britischen Betreibergesellschaft BNFL weisen ein oder zwei Transportbehälter erhöhte Kontaminationen auf. Die Verschmutzungen sind trotz regelmäßiger Kontrollen in Deutschland nicht entdeckt worden. In Deutschland wurden zu keinem Zeitpunkt erhöhte Kontaminationen festgestellt.
  2. Die deutschen Betreiber haben bereits seit Jahren Kenntnis von konkreten Verschmutzungen deutscher Transportbehälter. Die Energieversorgungsunternehmen haben dies in einer gemeinsamen Erklärung vorgestern erneut gegenüber der Öffentlichkeit eingeräumt. Gleichwohl wurde weder das Eisenbahnbundesamt noch das Bundesumweltministerium von diesem Sachverhalt informiert.
  3. Das Bundesumweltministerium ist erstmals am 24. April 1998 von den in Valognes festgestellten konkreten Kontaminationen über die französischen Behörden informiert worden. Am 19. Mai 1998 wurde das Bundesumweltministerium von den erhöhten Kontaminationen an Transportbehältern in Sellafield durch das niedersächsische Umweltministerium informiert.
  4. Es trifft zu, daß das in der Wissenschaft erörterte Problem möglicher Kontaminationen bei Brennelementtransporten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt werden können, in Fachkreisen bekannt war. Aber die Messungen haben keine Anhaltspunkte ergeben, die diese wissenschaftliche Diskussion in der Praxis bestätigt hätten. In Deutschland sind Meßkontrollen beim Abgang der Behälter aus den Kernkraftwerken, während des Transportvorgangs und beim Empfänger vorgeschrieben, um zu gewährleisten, daß der zulässige Grenzwert eingehalten wird. In insgesamt drei Gerichtsentscheidungen des OVG Münster und des OVG Lüneburg wurde das in Deutschland praktizierte Transport- und Lagerbehälterkonzept bestätigt.

 

III. Politische Bewertung

Wenn man sich die Diskussion der letzten Tage ansieht, wird der Versuch deutlich, einen Widerspruch zwischen den Aussagen mancher Wissenschaftler oder Techniker in Gutachten und den Aussagen des Bundesumweltministeriums herbeizureden. Einen solchen Widerspruch gibt es nicht.

Das Bundesumweltministerium hat stets deutlich gemacht - zuletzt in der Presseerklärung vom 22.05.1998 - daß das Problem oder, wie viele jetzt sagen, das Phänomen möglicher Kontaminationen bei Brennelementtransporten wissenschaftlich behandelt worden ist und als solches bekannt ist. Allerdings konnte etwa Professor Schlich unabhängige deutsche Gerichte von seinen Einschätzungen nicht überzeugen.

Darüber hinaus ist trotz der herangezogenen Behauptungen und Vorwürfe einzelner Wissenschaftler über Gutachten, Protokolle und Anhörungen festzuhalten: Informationen über konkrete Meßergebnisse von Grenzwertüberschreitungen sind dem Bundesumweltministerium von französischer Seite erst am 24.04.1998 mitgeteilt geworden.

Vor diesem Hintergrund führt aber nunmehr genau diese Diskussion, mit der auf einen scheinbaren Widerspruch geschlossen wird, zu dem eigentlich entscheidenden Kern des Problems im Umgang mit Hochtechnologien: Der Umgang mit Hochtechnologien erfordert klare Grenzwerte und Richtlinien zur Vermeidung von Sicherheits- bzw. Gesundheitsrisiken. Überschreitungen oder Nichteinhaltungen müssen konkret kontrolliert und im Zweifelsfalle umgehend abgestellt werden. Soll aber im Grunde jede potentiell oder theoretisch gegebene technische Möglichkeit bestimmter physikalischer Prozesse und Erscheinungen absolut ausgeschlossen werden, dann wird etwas gefordert, was entweder einen alles leistenden und omnipräsenten Staat vorgaukelt oder ein modernes Industrieland im Umgang mit Hochtechnologien völlig bewegungs- und handlungsunfähig macht.

Das heißt nicht, daß über bestimmte Vorkommnisse und Erscheinungen hinweggesehen werden darf oder sie gar billigend in Kauf genommen werden. Das macht vielmehr ein Handeln erforderlich, das von klar umrissenen und nachvollziehbaren Prinzipien geleitet ist, die es möglich machen, konkrete Erscheinungen einzuschätzen und in ihrer Wirkung bewerten zu können:

 

  1. Das Kriterium der Sicherheitsrelevanz - Sicherheit ist das entscheidende Kriterium, um Sachverhalte im Zusammenhang mit der Kernenergie bewerten zu können, also ein Handlungsraster, nach dem etwa mit Hilfe von Messungen Risiken eingeschätzt und unterschieden werden können.
  2. Transparenz - das heißt in diesem Fall Offenlegung und Austausch konkreter Meßergebnisse.
  3. Keine Pauschalverurteilungen - Zu einer verantwortungsvollen Einschätzung des in diesem Fall von den Energieversorgungsunternehmen eingeräumten Versäumnisses bei der Übermittlung von Informationen über Meßergebnisse beim Transport abgebrannter Brennelemente gehört auch, diesen Sachverhalt in den Gesamtzusammenhang der Entsorgung radioaktiver Abfälle und der friedlichen Nutzung der Kernenergie einzuordnen. Vor diesem Hintergrund sollte sich deshalb - jenseits grundsätzlicher politischer Unterschiede - jeder davor hüten, die friedliche Nutzung der Kernenergie und die sie vertretende Industrie pauschal zu verurteilen. Es gehört zu meiner Verantwortung, dies genauso deutlich zu machen, wie die notwendigen Schritte zur Klärung des konkreten Problems weiter voranzubringen. Dies ist auch insbesondere in bezug auf das Engagement deutscher Unternehmen zur Verbesserung der Sicherheitskonzeption von Kernkraftwerken in Mittel- und Osteuropa von großer Bedeutung.

 

Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Auf der Grundlage dieser drei Aspekte kann im Umgang mit Hochtechnologien wie der Kernenergie in Staat und Politik verantwortungsbewußt gehandelt werden. Auf der Grundlage dieser drei Aspekte kann das Vertrauen in die Sicherheit und Verantwortbarkeit der Nutzung und Anwendung von Hochtechnologien wie der Kernenergie erhalten oder - wie in diesem Fall - wiederhergestellt werden. Wer dies ablehnt, agiert nur noch parteitaktisch oder beschädigt den Standort Deutschland. Zudem machen die Ereignisse erneut deutlich, wie notwendig eine Weiterentwicklung des 1979 zwischen Bund und Ländern vereinbarten Entsorgungskonzeptes ist. Jeder politisch Verantwortliche in Bund und Ländern muß sich dieser Aufgabe bewußt sein. Ein parteiübergreifender Konsens wäre Grundvoraussetzung für Transparenz und Vertrauen bei der Nutzung der Kernenergie."

25.05.1998 | Pressemitteilung 35/98 | Klimaschutz
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