Das Bundesumweltministerium hat die baden-württembergische Atomaufsichtsbehörde angewiesen, in dem Verwaltungsstreitverfahren über die Zulässigkeit des weiteren Betriebs des Atomkraftwerks Obrigheim die Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts zu beachten. Danach muss das Stuttgarter Umweltministerium einen möglichen Genehmigungsverstoß erneutprüfen und dabei auch die Sichtweise der Anwohner zugrunde legen. In dem seit 1994 anhängigen Verfahren geht es um die Frage, ob die Errichtung des Atomkraftwerks Obrigheim vollständiggenehmigt ist.
Das Bundesumweltministerium stellt in seiner Weisung klar, dass bei der behördlichen Feststellung dessen, was genehmigt worden ist, auf die Sicht des betroffenen Bürgers abzustellen ist. Sollte das Atomkraftwerk Obrigheim nicht ausreichend genehmigt sein, dann ist – so die Weisung des BMU – der Weiterbetrieb nur dann zulässig, wenn „ein atypischer Ausnahmefallvorliegt “. Ein solcher Fall liege u.a. nur dann vor, wenn die baden-württembergische Aufsichtsbehörde zweifelsfrei feststellt, „dass die Anlage den materiellen zur Zeit derErrichtung geltenden, drittschützenden atomrechtlichen Anforderungen genügt.“ Damit macht das Bundesumweltministerium Rechtsgrundsätze verbindlich, die vomBundesverwaltungsgericht aufgestellt worden sind
Die baden-württembergische Behörde muss nun den möglichen Genehmigungsverstoß erneut prüfen, was sie bisher abgelehnt hatte. Dabei muss sie nicht nur den Maßstabdes Anlagenbetreibers, sondern auch die Sichtweise des „potentiell Drittbetroffenen“ - so werden die Anwohner im Juristendeutsch genannt - zugrunde legen. Dabei geht es insbesondere umdie Frage, ob die nachträgliche Änderung der Wanddicke des Reaktordruckbehälters genehmigt ist. Die Wanddicke des Reaktordruckbehälters war im Verlaufe des späterenGenehmigungsverfahrens gegenüber den Angaben des der Öffentlichkeit vorgestellten Sicherheitsbericht reduziert worden. Ein entsprechender Hinweis auf diese Änderung erfolgte nicht.
Hintergrund: Der Rechtsstreit um das AKW Obrigheim
Das Kernkraftwerk Obrigheim (KWO) erhielt 1968 eine Probebetriebsgenehmigung und wurde auf dieser Grundlage 20 Jahre betrieben. 1989 beantragten Anwohner wegen Fehlens einerDauerbetriebsgenehmigung zunächst erfolgreich die Betriebseinstellung. Das Bundesverwaltungsgericht stellte jedoch 1991 fest, dass auch eine Probebetriebsgenehmigung genüge, weil bereitsdie Errichtungsgenehmigungen bestätigt hätten, dass das KWO sicher betrieben werden könne. 1992 wurde dann nach umfangreichen Prüfungen die Dauerbetriebsgenehmigung erteilt.
Diese Entscheidung der obersten Verwaltungsrichter des Bundes hatte den Klägern die Möglichkeit genommen, ihre sicherheitstechnischen Bedenken gegen die Betriebsgenehmigung anzumelden,weil ja die Errichtungsgenehmigung maßgeblich ist. Daraufhin stellten sie 1994 in Frage, ob die Anlage überhaupt der Errichtungsgenehmigung entspricht. Das war schon deshalb zweifelhaft,weil die Genehmigungspraxis bis zum Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 1991 davon ausging, dass die Betriebsgenehmigung noch Änderungen von Anlagenteilen gegenüber derErrichtungsgenehmigung absegnen könne. Die Kläger machen seit 1994 geltend, das KWO entspreche zum Teil nicht der Errichtungsgenehmigung, d.h. konkret, der 3. Teilerrichtungsgenehmigung von1967. Wichtigster Punkt ist, dass die Wanddicke des Reaktordruckbehälters tatsächlich geringer sei, als die Genehmigung durch bezug auf den Sicherheitsbericht vorschreibe. Der VGH hatte1999 daraufhin entschieden, dass ein derartiger Genehmigungsverstoß nicht zur endgültigen Betriebseinstellung führe. Dieses Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht am 25. Oktober 2000aufgehoben und zurückverwiesen. Der VGH müsse prüfen, ob ein Genehmigungsverstoß vorliege, der dann grundsätzlich die Behörde zur endgültigen Betriebseinstellungberechtige. Eine Duldung sei nur unter engen Voraussetzungen möglich, die aber bei dem KWO vorliegen könnten. Der VGH könne aber auch den Genehmigungswiderspruch offen lassen, wenn dieBehörde ihr Ermessen gegen eine Stillegung wegen des dann zu unterstellenden Abweichens von der Genehmigung rechtmäßig ausgeübt hat.
Die Kläger haben sich mit einem Abwarten der Entscheidung des VGH in der Hauptsache nicht zufrieden gegeben, sondern versuchen nun in einem Eilverfahren vorab die Betreibseinstellungdurchzusetzen. Das baden-württembergische Umweltministerium sieht keinen Verstoß gegen die Genehmigung, weil nicht der Bezug auf den Sicherheitsbericht in der 3. Teilerrichtungsgenehmigungmaßgeblich sei, sondern der Bezug auf eine technische Unterlage des Herstellers.