Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit teilt mit:
Vertreter von 81 Staaten haben vom 8. - 12. September 1997 in einer diplomatischen Konferenz bei der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wien (IAEO) ein Änderungsprotokoll zum weltweiten Wiener Übereinkommen von 1963 über die Haftung für nukleare Schäden und ein neues, ebenfalls weltweites Übereinkommen über ergänzende Entschädigungsleistungen verabschiedet. Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel begrüßt, daß die seit 1990 vorgenommenen Arbeiten jetzt zu einem konkreten Konferenzergebnis geführt haben. Die Änderung des Wiener Übereinkommens, dem die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied des regionalen Pariser Haftungsübereinkommens von 1960 nicht angehört, hat nur mittelbare Bedeutung für Deutschland. Ausgehend von den Änderungen zum Wiener Übereinkommen steht jedoch eine Überarbeitung des Pariser Übereinkommens bevor.
Das Übereinkommen über ergänzende Entschädigungsleistungen wird für die Bundesrepublik erst nach einem Beitritt völkerrechtlich verbindlich. Ein solcher Schritt muß ebenso wie eine vorherige Zeichnung, die vom 29. September 1997 an möglich ist, genau überlegt werden, denn der verabschiedete Übereinkommenstext trägt in wichtigen Punkten den während der langjährigen Verhandlungen und auch in der Konferenz vorgebrachten deutschen Anliegen nicht ausreichend Rechnung.
Ein besonders wichtiger Verhandlungspunkt waren die Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Übereinkommens über ergänzende Entschädigungsleistungen. Während die einen für eine niedrige Schwelle plädierten mit der möglichen Folge eines internationalen Fonds von zunächst nicht einmal 190 Millionen DM, setzte sich Deutschland - unterstützt von zahlreichen Staaten - energisch für eine höhere Mindestbeteiligung ein. Der von Deutschland mit insbesondere französischer Unterstützung unterbreitete Vorschlag, das Inkrafttreten des Übereinkommens unter anderem von der Beteiligung von fünf größeren Nuklearstaaten abhängig zu machen, fand nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Die Bundesumweltministerin bedauert die damit verbundenen Abstriche von einem wirksamen finanziellen Opferschutz.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Der deutsche Vorschlag entspricht dem ursprünglichen Willen der Initiative, einen bedeutsamen Fonds für den Opferschutz zu schaffen. Deshalb sollte auch der Haftungstopf möglichst groß sein. Jetzt bleibt abzuwarten, wie sich die Nuklearstaaten, die sich statt dessen für ein rasches Inkrafttreten mit allerdings geringeren Entschädigungsmitteln ausgesprochen haben, tatsächlich verhalten."
Weitere deutsche Vorbehalte betreffen den über internationale Entwicklungen hinausgehenden weiten Begriff des Nuklearschadens und die Regelung des zuständigen Gerichts für Streitigkeiten über Schäden, die durch Nukleartransporte in Küstennähe entstanden sind. Wie in den früheren Expertenrunden setzte sich Deutschland auch in der Diplomatischen Konferenz nachdrücklich für entsprechende Änderungen ein. Insgesamt wogen die Bedenken nicht so schwer, daß Deutschland, ebenso wie die EU-Partner, die Zustimmung zu den Texten hätte verweigern müssen. Die deutschen Vorbehalte wurden ausdrücklich zu Protokoll gegeben. Auch IAEO-Generaldirektor Dr. Blix hatte davor gewarnt, das "Gleichgewicht der verschiedenen rechtlichen und politischen Interessen" zu gefährden.
Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel: "Globale Regelungen leben vom breiten Konsens. Mit unseren Bedenken können wir nicht als Verhinderer dastehen. Ich hoffe trotzdem, daß das Konferenzergebnis weltweit positive Entwicklungen auch zu höherer nuklearer Sicherheit auslöst."
Zum Hintergrund weist das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf folgendes hin:
I. Bestehendes System der internationalen Atomhaftungsübereinkommen
1. Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie (sog. Pariser Übereinkommen)
Das in den meisten westeuropäischen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien geltende Pariser Übereinkommen enthält materiell-rechtliche Regeln über die zivilrechtliche Haftung des Inhabers einer Kernanlage für Schäden, die durch ein nukleares Ereignis verursacht werden. Das Übereinkommen schafft Haftungsgrundsätze, die inzwischen weltweit als adäquate Regelungen zur haftungsrechtlichen Bewältigung des nuklearen Risikos anerkannt sind. An erster Stelle sind die Gefährdungshaftung des Inhabers einer Kernanlage und die ausschließliche Konzentrierung der Haftung allein auf den Inhaber der Kernanlage (sog. rechtliche Kanalisierung) zu nennen. Die im Vertrag vorgesehene Regelhaftungshöchstsumme beträgt 15 Millionen Sonderziehungsrechte (SZR). Der Wert eines SZR beträgt dabei etwa 2,50 DM (Stand Mitte August 1997). Die OECD hat jedoch empfohlen, den Betrag auf nicht weniger als 150 Millionen SZR anzuheben. Die Regelverjährungs- oder ausschlußfrist beträgt zehn Jahre ab dem nuklearen Ereignis.
2. Zusatzübereinkommen vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen (sog. Brüsseler Zusatzübereinkommen)
Das Brüsseler Zusatzübereinkommen ist akzessorisch zum Pariser Übereinkommen, d. h. nur Vertragsstaaten des Pariser Übereinkommens können auch Vertragsstaat des Zusatzübereinkommens werden. Es ergänzt das Pariser Übereinkommen durch die Bereitstellung weiterer finanzieller Mittel zur Erhöhung der Entschädigungssummen über den Betrag hinaus, den der haftpflichtige Inhaber nach dem Pariser Übereinkommen erbringen muß. Das Brüsseler Zusatzübereinkommen sieht ein dreistufiges Entschädigungssystem vor:
- die erste Tranche der Entschädigung ist aus Mitteln des haftpflichtigen Inhabers bereitzustellen und darf nicht weniger als 5 Millionen SZR betragen;
- zwischen diesem Betrag und 175 Millionen SZR stellt der Staat, in dem sich die Kernanlage des haftpflichtigen Inhabers befindet, weitere Entschädigung sicher;
- zwischen 175 und 300 Millionen SZR stellen die Vertragsstaaten insgesamt durch Beiträge aus öffentlichen Mitteln weitere Entschädigung sicher.
Das Geld wird erst im Schadensfall abgerufen. Vorabeinzahlungen in einen Fonds sind nicht vorgesehen.
3. Vienna Convention on Civil Liability for Nuclear Damage of 21 May 1963 (sog. Wiener Übereinkommen)
Das Wiener Übereinkommen ist für alle Mitglieder der Vereinten Nationen, ihrer Sonderorganisationen und der IAEO zum Beitritt offen. Tatsächlich zählen zu seinen Vertragsstaaten u.a. osteuropäische Staaten wie die Tschechische Republik und die Ukraine. Ebenso wie das Pariser Übereinkommen regelt das Wiener Übereinkommen die Grundlagen der zivilrechtlichen Haftung für nukleare Schäden durch nukleare Ereignisse. Das Übereinkommen ist inhaltlich weitgehend identisch mit dem Pariser Übereinkommen. Es gibt allerdings einige geringe Abweichungen. Zum Beispiel ist nach dem Wiener Übereinkommen der Anlagenstaat verpflichtet, bis zur Höhe der Haftung des Inhabers der Kernanlage einzuspringen, falls die Deckung des Inhabers nicht ausreicht oder unzulänglich ist; das Wiener Übereinkommen sieht ferner auch einen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Deckungsvorsorge gewährenden Versicherer oder sonstigen Garantieträger vor. Ein mit dem Brüsseler Zusatzübereinkommen vergleichbares Instrument zur Ergänzung des Wiener Übereinkommens gibt es nicht.
4. Joint Protocol Relating to the Application of the Vienna Convention and the Paris Convention of 21 September 1988 (sog. Gemeinsames Protokoll)
Das Gemeinsame Protokoll stellt eine Verbindung zwischen dem Pariser Übereinkommen und dem Wiener Übereinkommen her, indem die Vorteile des einen Übereinkommens auf Geschädigte im Vertragsgebiet des anderen Übereinkommens ausgeweitet werden. Inhaber von Kernanlagen in Parisstaaten haften somit auch für Schäden, die sie in Wienstaaten bewirken, nach dem Pariser Übereinkommen; umgekehrt gilt Entsprechendes. Das Übereinkommen trifft ferner Regelungen über das jeweils anwendbare Übereinkommen. Danach gilt ausschließlich entweder das Wiener oder das Pariser Übereinkommen. Bei Schäden durch Kernanlagen gilt das Übereinkommen, das für den Staat verbindlich ist, in dessen Hoheitsgebiet die Anlage gelegen ist, bei Schäden während Transportvorgängen ist das Übereinkommen des haftpflichtigen Inhabers anwendbar. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Gemeinsame Protokoll gezeichnet; die Ratifizierung durch ein nationales Zustimmungsgesetz steht noch aus.
II. Ergebnisse der Wiener Expertenverhandlungen zur Verbesserung des internationalen Atomhaftungssystems
Die seit 1990 in Wien geführten Expertenverhandlungen zur Verbesserung des internationalen Atomhaftungssystems haben zu folgenden Ergebnissen geführt:
1. Draft Protocol to Amend the Vienna Convention on Civil Liability for Nuclear Damage (Revision des Wiener Übereinkommens)
Das im Lichte der Erfahrungen aus dem Tschernobyl-Unfall und nach dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen zum Gemeinsamen Protokoll unter Mitwirkung der Wiener und der Pariser Vertragsstaaten entworfene Änderungsprotokoll zum Wiener Übereinkommen sieht vor, in diesem Übereinkommen die Begriffe des Schadens und des nuklearen Ereignisses zu erweitern. Ferner soll der Geltungsbereich über die Hoheitsgebiete der Vertragsstaaten hinaus erweitert und die Konvention auf alle Kernanlagen angewandt werden. Schließlich soll die bisherige Regelausschlußfrist von zehn Jahren auf 30 Jahre für Tod und Körperverletzung verlängert werden. Für alle anderen Schäden gilt eine solche Frist von zehn Jahren.
2. Draft Supplementary Funding Convention (Übereinkommen über ergänzende Entschädigungsleistungen)
Das Ziel dieses Vertragsentwurfs ist es, über die vom haftpflichtigen Inhaber einer Kernanlage und ggf. vom Anlagenstaat aufgebrachten Entschädigungsmittel hinaus weitere Entschädigungsmittel durch die Vertragsstaaten des Übereinkommens bereitzustellen. Der Entwurf nimmt damit den Grundgedanken des Brüsseler Zusatzübereinkommens auf. Während jedoch das Brüsseler Zusatzübereinkommen akzessorisch zum Pariser Übereinkommen ist, besteht eine solche Akzessiorität zu einem bestimmten Übereinkommen bei dem neuen Instrument nicht. Ein wesentlicher konzeptioneller Unterschied des Entwurfs zum Brüsseler Zusatzübereinkommen besteht ferner darin, daß grundsätzlich 50% des Entschädigungsgeldes, das von den Vertragsstaaten aufgebracht wird, ausschließlich für Schäden außerhalb des Anlagenstaates (= Unfallstaates) verwendet werden muß. Die Begriffsbestimmungen folgen im wesentlichen denjenigen des Entwurfs zur Revision des Wiener Übereinkommens. Entschädigung soll nach dem Übereinkommensentwurf prinzipiell in zwei Stufen gewährt werden:
- bis zum Betrag von mindestens 300 Millionen SZR soll der Anlagenstaat Entschädigung garantieren;
- jenseits von 300 Millionen SZR werden die Vertragsparteien Geld aus öffentlichen Mitteln bereitstellen auf der Grundlage eines Schlüssels, der in dem Übereinkommen festgelegt wird.
Das internationale Geld wird nur im Falle eines nuklearen Ereignisses abgerufen. Es wird also nicht vorab in einen Fonds eingezahlt. Der Beitrag für die Vertragsstaaten zur Aufbringung der internationalen Entschädigungstranche errechnet sich anhand eines Schlüssels, in den insbesondere die installierte thermische Reaktorleistung des jeweiligen Staates einfließt.
III. Ausblick auf die Diplomatische Konferenz
1. Endpunkt langjähriger Expertenverhandlungen
Die Bundesrepublik Deutschland begrüßt, daß mit der Revision des Wiener Übereinkommens und der Supplementary Funding Convention zwei Entwürfe auf der Tagesordnung der Diplomatischen Konferenz stehen, die den Endpunkt langjähriger Expertenverhandlungen markieren. Deutschland dankt dem Sekretariat der IAEO für seine Unterstützung.
2. Revision des Wiener Übereinkommens
Für die Bundesrepublik Deutschland ist die Revision des Wiener Übereinkommens ein richtiger Schritt, um das bisherige Wiener Übereinkommen zu modernisieren und um die Lehren aus dem Tschernobyl-Unfall zu ziehen. Damit wird die Anziehungskraft sowohl des Wiener Übereinkommens als auch des Gemeinsamen Protokolls zur Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens erhöht und so das bestehende internationale Atomhaftungssystem gestärkt.
3. Supplementary Funding Convention
Die Bundesrepublik Deutschland begrüßt auch die Arbeiten am Entwurf einer Supplementary Funding Convention. Auf denselben Erwägungen wie diese Konvention beruhen das Pariser Übereinkommen und das Brüsseler Zusatzübereinkommen, das - regional begrenzt - öffentliche Mittel zur Verfügung stellt. Die neue Konvention verfolgt diesen Ansatz auf globaler Ebene weiter. Allerdings bestehen noch gewichtige Bedenken. Das gilt insbesondere für den weiten Schadensbegriff, der sich nicht vollständig mit demjenigen des Deutschen Rechts deckt. Problematisch erscheint auch die Regelung des Entwurfs, wonach die Konvention bereits mit fünf Staaten mit einer installierten thermischen Reaktorleistung von 400.000 Megawatt in Kraft tritt. Praktische Folge dieser Bestimmung ist, daß die Konvention mit einem Fonds von etwa 75 Millionen SZR (187,5 Millionen DM) in Kraft treten könnte, was eine extrem niedrige Summe darstellt. Dies verträgt sich schlecht mit dem beabsichtigten globalen Ansatz des Instruments. Deutschland wirbt um die Unterstützung anderer Staaten bei der Lösung dieser Probleme und ist zur Zusammenarbeit im Geiste eines für alle Seiten akzeptablen Kompromisses bereit. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß mit dem Brüsseler Zusatzübereinkommen ein seit Jahrzehnten bewährtes Instrument gegeben ist.