Zurück zur Natur?
Die Umweltproblematik in der DDR verschärft sich im Laufe der 1970er Jahre und ist in weiten Teilen der DDR deutlich sichtbar und leibhaftig zu spüren. Die Behörden dokumentieren zwar die Beeinträchtigungen, und in Städten und Bezirken sammeln sich Daten zur Lage der Gewässer-, Boden- und Luftgüte, die auch die problematischen Belastungen der Umwelt abbilden. Diese Ergebnisse aber werden zunehmend als brisant und gefährlich eingestuft. 1982 erlässt das Präsidium des Ministerrates der DDR zwei Anordnungen, die Umweltdaten unter Verschluss stellen und zur Geheimsache machen. Das Reden und Schreiben über diese Daten und Sachlagen werden so noch schwieriger. Die Geheimhaltungspolitik verstärkt zudem den Widerspruch zwischen offiziellen Darstellungen und ökologischer Wirklichkeit. Um über die Umweltfrage breit aufzuklären, bedarf es eines genauen Auslotens des Sagbaren, will man nicht in offenen Konflikt geraten. Der Bedarf an Umweltliteratur wächst indes. Die Nachfrage machen sich eine Biologin und ein Ökochemiker zunutze. Anfang der 1980er Jahre beginnen Marianne und Ernst Paul Dörfler, an einem Buch zu arbeiten, das es "in der DDR ja gar nicht hätte geben dürfen."
"Zurück zur Natur?"
1987 erscheint im renommierten staatlichen Verlag Urania ein in Leinen gebundenes und sorgfältig illustriertes Buch mit dem Titel "Zurück zur Natur?" Der Untertitel skizziert ein großes Thema: "Mensch und Umwelt aus ökologischer Sicht". Die Themen reichen von Artensterben, Gewässer- und Luftverschmutzung, Abfallbergen, Pestizidbelastung, Waldsterben bis zu den Folgen von Massentierhaltung und Agrarindustrialisierung und bieten so eine umfassende Übersicht über das problematische Mensch-Natur Verhältnis der Moderne. Eingebettet in historische Berichte über die Veränderungen der Naturnutzung und ausgestattet mit Erläuterungen über ökologische Zusammenhänge schildert das Werk die Entstehung aktueller Umweltrisiken und Naturzerstörungen. Es verknüpft Problemdiagnosen mit Lösungsentwürfen und persönlicher Verantwortung. Das Buch ist ein Coup. Die Erstauflage von 15.000 Stück ist innerhalb von drei Tagen verkauft. Kurz darauf erscheinen Lizenz-Ausgaben auch in Österreich und der BRD.
Körperfett statt fossilem Brennstoff
Marianne und Ernst Paul Dörfler agieren nicht in einem größeren Netzwerk. Sie haben einen individuellen Weg gewählt, um die akuten Umweltprobleme in die Öffentlichkeit zu bringen. Beide haben auf naturwissenschaftlichen Feldern promoviert und gearbeitet, sich aber aus staatlichen Strukturen gelöst – eher ein Ausnahmefall in der DDR. Als freie Wissenschaftsautorinnen und Wissenschaftsautoren tätig zu sein, ist eigentlich nicht vorgesehen. Sie machen es einfach. Und das ist durchaus möglich – die Güter des täglichen Lebens sind in der DDR erschwinglich, die Dörflers versorgen sich aus dem Garten ihres selbst renovierten Bauernhauses in Steckby an der Elbe, ziehen ihre Kinder groß, lesen, sammeln Fakten und schreiben zusammen. Zunächst ist ein Nachschlagewerk mit Umweltwissen geplant, aber das entpuppt sich als naive Idee. Der Lektor, der das Buch im Verlag "durchschmuggelt", ist klar, dass es mit validen Daten über die Umweltsituation in der DDR "nicht genehmigungsfähig" wäre. Also gibt es keine Tabellen und Statistiken, dafür aber Graphiken und Fotografien, die eine Erzählung über die brennenden Fragen der Umweltsituation illustrieren. Die Problemdiagnosen halten sich von apokalyptischen Szenen fern.
Der Fokus liegt auf der Bandbreite an möglichen Lösungen und ihrem Zusammenspiel. Technik, internationale Abkommen, individuelle Verantwortlichkeit und Spielräume für Veränderungen sind Bestandteile der Krisenbewältigung: "Sterbende Wälder? Ihr Überleben liegt in unserer Hand." Immer wieder wird es in diesem Buch ganz konkret. Denn das Buch will alle erreichen, nicht nur die mit dem Expertenwissen und Fachverstand. Das Fahrrad wird so als "Beispiel für die Eleganz der einfachen Lösung" gepriesen – fährt man an 200 Tagen im Jahr eine Strecke von fünf Kilometern mit dem Rad statt mit dem Auto, verbraucht das lediglich 1,5 Kilogramm "Körperfett" statt 100 Liter Benzin inklusive 24 Kilo Kohlenmonoxid und 30 Gramm Blei. Die Wahl für die Art der Fortbewegung sei durchaus eine Entscheidung, "die bis in den Wald hineinreicht." Autorin und Autor müssen ihr Wissen so verpacken, dass es nicht beanstandet, aber vom Publikum doch verstanden wird.
Es ist eine andauernde Gratwanderung. Nachdem ihr erster Manuskriptentwurf fertig ist, vergehen drei weitere Jahre bis zur Veröffentlichung. Änderungen werden nötig: Negative Beispiele sollten nicht aus der DDR stammen, die Sowjetunion müsse öfter erwähnt werden. Die Umweltprobleme der DDR übersetzen die beiden folglich als ein Phänomen der modernen Industriegesellschaft und beziehen sich auf Beispiele aus der ganzen Welt. Das Buch trifft einen Nerv. Als der Verlag den Titel ankündigt, liegen umgehend tausende Bestellungen vor. Die Lesungen von Marianne und Ernst Paul Dörfler, die dem Erscheinen folgen, sind immer wieder ausgebucht und verschaffen den beiden nicht nur ein weitreichendes Kontaktnetz zu anderen Umweltengagierten, sondern auch eine gewisse Sicherheit in ihrer prekären Existenz als Freischaffende, die sich mit brisanten Themen beschäftigen: "Mit dem Erscheinen konnten wir nicht mehr von der Bildfläche verschwinden."
Zitate aus Marianne Dörfler und Ernst Paul Dörfler (1987): Zurück zur Natur? Mensch und Umwelt aus ökologischer Sicht.
Interview mit Ernst Paul Dörfler am 21. Juli 2020.