Es sollte eine aufmüpfige Veranstaltung werden
Die Berliner Umweltbibliothek entsteht in einer Zeit, in der Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten zwar vermehrt im öffentlichen Raum agieren, sie vielerorts aber auch resignieren oder Ausreisen Gruppen 'trockenlegen'. Die Gründerinnen und Gründer wollen in der DDR bleiben und andere dazu bewegen, es ihnen gleich zu tun. Sie wissen, was dafür nötig ist: "Man musste eine Gegengesellschaft aufbauen, damit man sich in diesem Land bewegen konnte." Dazu gehört für sie eine alternative Kulturszene genauso wie das Aufbrechen des staatlichen Informationsmonopols – ob zu Umweltproblemen oder Menschenrechten. Sie begeben sich zwar wie andere Gruppen unter das Dach der Kirche, doch sie scheuen nicht die Konfrontation mit dem Staat, im Gegenteil.
"Hier war Spontanität besser möglich"
Für den Umweltaktivisten Christian Halbrock beginnt die Vorgeschichte der Bibliothek 1983 bei einem Protest gegen den Autobahnbau Schwerin-Wismar. Dort entsteht die Idee für einen Kreis "ohne feste Strukturen, wo wir Aktionen machen wollten, mit denen wir nach außen strahlen." Mit neuen Protestformen und Reaktionsschnelle wollen die Aktivistinnen und Aktivisten Staat und Sicherheitsorgane "überrumpeln". Denn "wenn etwas neu war und nicht sofort eingeordnet werden konnte, war es häufig so, dass erstmal nichts passierte".
Die Gruppe trifft sich in der Glaubenskirche in Berlin Lichtenberg und der Plan für eine Umweltbibliothek reift. Doch dieser Versammlungsort ist dafür nicht geeignet: zu nah an der Stasizentrale gelegen, zu viele Konflikte mit dem Pfarrer. Für ihr Projekt wollen die Gründungsmitglieder um Christian Halbrock, Wolfgang Rüddenklau und Carlo Jordan mehr Mitspracherecht. Ihre Wahl fällt auf die Zionskirche. Die Gemeinde und Pfarrer Hans Simon (1935-2020) empfangen sie mit offenen Armen. Es ist 1986, das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, und sie wissen den neu gewonnenen Sachverstand im eigenen Haus zu schätzen. Noch bevor der Bibliotheksbetrieb beginnt, stellt die Gruppe einen Themenabend mit dem provokanten Titel Morsche Meiler auf die Beine. Es wird "eine massiv volle" Veranstaltung; weitere folgen. Zum Glück hat die Gruppe, die größtenteils aus Autodidaktinnen und Autodidakten besteht, auch eine Physikerin an Bord: Christine Müller. "Ohne sie wäre nicht denkbar gewesen, was geschehen ist".
Am 2. September 1986 eröffnet die Umweltbibliothek in Kellerräumen der Zionskirche ihre Pforten. Sie macht kaum erhältliche und verbotene Bücher ebenso zugänglich wie ein breites Spektrum von Samisdat-Schriften. Sie bietet einen Ort für Ausstellungen, Konzerte und Lesungen und für Treffen der oppositionellen Bewegung. Hier erfahren Aktivistinnen und Aktivisten die neusten Termine.
"Wir hatten eine Position und haben sie bis zur äußersten Konsequenz vertreten."
Von ehemaligen Inhaftierten wissen die Aktivistinnen und Aktivisten der Umweltbibliothek: Es "ist nicht so, dass niemand den Mund aufmacht: Es erfährt bloß keiner." Sie wollen daher eigene Kommunikationskanäle stärken und eine Untergrund-Zeitschrift herausgeben. Aus einem kleineren Mitteilungspapier werden ab April 1987 die Umweltblätter, die alle ein bis zwei Monate erscheinen. Zudem können andere Gruppen die vorhandene Technik als Druckerei nutzen.
In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1987 stürmt die Staatssicherheit samt Staatsanwalt die Umweltbibliothek. Mit der Aktion Falle wollen sie die Aktivistinnen und Aktivisten beim Druck des illegalen Grenzfalls antreffen, einer Schrift der Initiative Frieden und Menschenrechte. In Arbeit sind aber gerade die legalen Umweltblätter. Dennoch führt die Stasi sieben Personen ab, zwei kommen in Untersuchungshaft. Doch die versuchte Schwächung der Aktivistinnen und Aktivisten misslingt: Aus dem ganzen Land beteiligen sich Menschen an Solidaritätsbekundungen und Mahnwachen. Die Umweltbibliothek wird über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Die beiden Inhaftierten werden am 28. November entlassen. "Das wurde zur ersten öffentlichen Niederlage der Staatssicherheit", bringt es Carlo Jordan auf den Punkt. Die Solidaritätserfahrung stärkt die gesamte oppositionelle Bewegung.
Innerhalb der Umweltbibliothek allerdings brechen Konflikte auf, persönliche und inhaltliche. Ein Streitpunkt: Die Idee zur Bildung eines DDR-weiten Netzwerkes. Einige Mitglieder erachten eine solche Struktur für notwendig und betonen deren regionale Ausrichtung, andere befürchten, damit eine zentralistische Organisationsform zu schaffen. Am Ende gründet sich um Carlo Jordan im Januar 1988 das Grün-ökologische Netzwerk Arche. Es kommt zu einem Unvereinbarkeitsbeschluss: Niemand darf in beiden Gruppen tätig sein.
Die Umweltbibliothek setzt ihre Arbeit fort und hat alle Hände voll zu tun. "Im Prinzip war das wie ein Zweitjob". Ihrem politischen Anspruch bleiben die Aktivistinnen und Aktivisten treu. Am 2. Oktober 1989 organisieren sie in der Berliner Gethsemane Kirche gemeinsam mit dem Weißenseer Friedenskreis und der Kirche von unten eine Mahnwache für die bei den Leipziger Montagsdemonstrationen Inhaftierten. In den folgenden Tagen tragen sie über ein Kontakttelefon Informationen zu weiteren Verhaftungen und oppositionellen Aktionen zusammen und schaffen Öffentlichkeit.
Der Umbruchsprozess 1989/90 ändert schließlich alle gesellschaftlichen und politischen Strukturen, zu denen sich die Umweltbibliothek als Gegenentwurf versteht. Das Tempo der Ereignisse lässt Mitglieder zurück, das Milieu der westdeutschen Umweltbewegung befremdet viele. "Wir hatten große Hoffnung und wurden dann kalt erwischt." Doch eines überdauert: Mit den Mahnwachen haben sie gezeigt, dass man Menschen auch unter widrigen Bedingungen zu solidarischem Handeln bewegen kann. Für Christian Halbrock einer der größten Erfolge der DDR-Umweltbewegung.
Alle nicht namentlich gekennzeichneten Zitate entstammen dem Interview mit Christian Halbrock am 03. August 2020.
Interview mit Carlo Jordan am 04. August 2020.