Das war wie Straßenbahnticket ziehen
Ein Instrument des Protestes und der politischen Kommunikation gehört für viele Akteurinnen und Akteure der DDR zum festen Repertoire ihres Einsatzes für Natur und Umwelt: die Eingabe. Sie richten sie an Betriebe, Behörden oder an Erich und Margot Honecker persönlich.
Das Eingaberecht ist im Ansatz bereits in der Verfassung der DDR von 1949 verankert, in Rechtsform wird es als Beschwerderecht 1953 gegossen und durchläuft einige Präzisierungen. 1975 wird das Eingabegesetz schließlich in seiner letztgültigen Form verabschiedet. Es legt nicht nur das Recht auf das Einreichen einer Eingabe – als Einzelperson oder Kollektiv – sondern auch die Regeln zu ihrer Beantwortung fest. So muss es in der Verwaltung verbindliche Sprechzeiten geben, in denen Eingaben mündlich vorgetragen werden können. Die behördlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sind verpflichtet, das Beschwerdeanliegen mit den Petentinnen und Petenten in einem Eingabegespräch zu klären. Der Zeitraum zur Beantwortung ist gesetzlich festgelegt. Was sich nur bedingt gesetzlich regeln lässt, ist die Qualität der Antworten und Lösungsansätze – zudem existieren keine Verwaltungsgerichte, die die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer bei Widerspruch anrufen könnten.
In Eingaben machen Menschen ihrem Unmut Luft. Sie informieren Behörden, Betriebe und Parteiapparat über konkrete Probleme oder strukturelle Missstände und verlangen Abhilfe. So erfahren die zuständigen Stellen, wo der Druck besonders groß ist und Handlungsbedarf besteht. Damit zeitigen Eingaben – wie andere Protestformen auch – mal mehr, mal weniger Erfolg.
Der VEB Ostthüringer Möbelwerke in Zeulenroda produziert nicht nur Möbel sondern auch jede Menge Staub. Die Belastung im Umfeld des Werkes ist hoch, vor allem nachdem das Werk Mitte der 1960er Jahre seine Produktion steigert. Nicht nur die Bevölkerung, auch eine Molkerei und ein Altstoffhandel leiden unter der Verunreinigung. Die Betroffenen greifen zum Mittel der Eingabe, Tendenz steigend. Es folgt eine unangekündigte Betriebskontrolle durch die Bezirkshygieneinspektion und die 'Arbeiter- und Bauerninspektion', die deutliche Mängel bei den Schutzvorrichtungen zu Tage bringt: Falsche Technik gepaart mit offenen Verladeeinrichtungen, die dem Staub Tür und Tor öffnen. Gespräche mit dem Betriebsdirektor scheitern, die Bezirkshygieneinspektion droht mit Zwangsgeld, falls die Frist zur Beseitigung der Mängel nicht eingehalten wird. Ausreden lässt sie nicht gelten. 1964 muss der VEB Ostthüringer Möbelwerke in Zeulenroda kleinbeigeben. Die Eingaben erreichten ihr Ziel.
Ab den 1960er Jahren thematisieren Eingaben zunehmend die Verschmutzung von Gewässern und Luft. Geruchsbelästigung durch Betriebe in Wohnortnähe, die sichtbaren Folgen von Luftverunreinigung, wie der Zerfall von Fassaden oder absterbende Bäume, sind ebenso Anlass für Eingaben wie Gesundheitsbeschwerden. Diejenigen, die diese Eingaben aufsetzen, wollen keinen Schadenersatz, sie fordern eine Änderung der Sachlage durch konkrete Maßnahmen.
Ob es um Rechtsfragen, die schriftliche Formulierung eines Anliegens oder die Gesprächsführung geht: Die Wiederholung der Beschwerde – weil Verbesserungen auf sich warten lassen – schafft Eingabeprofis. Mitte der 1960er Jahre registrieren Staats- und Ministerrat mit Unbehagen eine steigende Zahl von Eingaben zu Umweltfragen. Diese Eingaben sind Teil einer umweltpolitischen Dynamik, die sich nicht zuletzt auch in der Verabschiedung des Landeskulturgesetzes 1970 widerspiegelt.
Die Eingabe ist ein Instrument, das allen offen steht. Das Eingabegesetz schreibt auch nicht vor, wie die Gruppe einer Kollektiveingabe organisiert sein soll. So kommt es, dass seit den 1970er Jahren neben Belegschaften und dem Kulturbund auch Kollektive, die man heute als Bürgerinitiativen beschreiben würde, Eingaben nutzen, um auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen und Lösungen zu verlangen. Gerade Eingaben, die von mehreren Personen gemeinsam formuliert und eingereicht werden, geht eine Diskussion und Gruppenbildung voraus, die die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihrem kritischen Anliegen bestärken können.
Bis in die 1970er Jahre verknüpfen Verfasserinnen und Verfasser ihre Eingaben durchaus mit der Hoffnung auf Verbesserung der Umweltsituation. Das ändert sich im letzten Jahrzehnt der DDR. Es wird sichtbar, dass der Staat seiner Pflicht nicht nachkommt. Das zeigen fehlende Umweltauflagen für Betriebe, zu viele Ausnahmeregelungen und Fristen zur Beseitigung der Mängel bis zum Sanktnimmerleinstag. Die in Eingabegesprächen gemachten Versprechungen sind nicht mehr glaubhaft, das immer gleiche Prozedere der Beschwichtigung von Behörden und Betrieben wirkt hohl. Vermehrt suchen Akteurinnen und Akteure neue Wege, ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Einige aber schreiben weiterhin Eingaben, setzen auf die 'Macht der Masse'. Diese kann dabei auf ganz andere Weise zur Wirkung kommen, als gedacht. Die Leipziger Umweltakteurin Gisela Kallenbach macht Ende der 1980er Jahre die Erfahrung, dass die Petentinnen und Petenten gemeinsam zum Gespräch geladen werden. Es seien zu viele für Einzelgespräche gewesen. Das aber bestärkt die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer umso mehr in ihrem Umwelt-Engagement.
1972 lässt die Staatssicherheit eine ihrer Kasernen in den Gosener Bergen erweitern. Mit klaren Folgen für die Erholungssuchenden aus dem unweit liegenden Berlin. Denn nun trennt ein Stacheldrahtzaun das zuvor frei zugängliche Waldgebiet ab und entzieht es der Allgemeinheit. Zahlreiche Berlinerinnen und Berliner schreiben Eingaben, an den Stadtmagistrat, die Bezirksbehörden und das Umweltministerium. Dass sie sich mit ihren Eingaben gegen ein Vorhaben der Staatssicherheit stellen, schreckt sie nicht. Die Bandbreite der Schreiben ist groß: Manche bitten fast vorsichtig um eine Zurücknahme der Abriegelung, andere äußern sich frank und frei gegen die militärische Nutzung des Gebietes. Mit Verweis auf das Landeskulturgesetz oder staatliche Äußerungen zur Verbesserung von Erholungsmöglichkeiten stützen die Petentinnen udn Petenten ihr Anliegen. Um mehr Öffentlichkeit zu gewinnen, binden manche die Berliner Zeitung ein. Doch ohne Erfolg. Die Staatsicherheit ist unantastbar, hier geraten Eingabeproteste an ihre Grenzen.
Das Zitat entstammt dem Interview mit Jörn Mothes, Umweltaktivist aus Schwerin, am 30. Juli 2020. Die Beispiele sind dem Buch von Christian Möller (2020): Umwelt und Herrschaft in der DDR entlehnt.