Die erstaunlichen Kretschmanns
Erna und Kurt Kretschmann gelten als Ikonen der DDR-Naturschutzbewegung. Sie sind Ausnahmeerscheinungen mit einer erstaunlichen Wirkung: Ein Paar, das bereits in der noch jungen DDR Naturschutzinitiativen anzettelt, Gesetze entwirft, Bäume pflanzt – und unzählige Menschen durch ihr Tun, Handeln und Denken für den Naturschutz inspiriert.
"Eine große Friedensarbeit"
Die gelernte Erzieherin Erna (1912-2001) und der gelernte Schneider Kurt Kretschmann (1914-2007) haben zeitlebens klare Haltungen: Sie sind antifaschistisch, pazifistisch und leben vegetarisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ende Kurt als Deserteur in einem Waldversteck bei Bad Freienwalde überlebt hat, wollen sie endlich ihre Lebensentwürfe verwirklichen, ihr "eigenes Leben gestalten" und vor allem etwas gemeinsam machen. Beide sind von den Reformbewegungen geprägt, beide vom Sozialismus überzeugt. Naturschutz wird dabei schnell zu einem der Dreh- und Angelpunkte ihres privaten und politischen Handelns. Für sie ist selbstverständlich, dass Naturschutz "eine große Friedensarbeit" ist.
Kurt nimmt 1950 das Amt des Kreisnaturschutzbeauftragten an, der auch das Engagement der ehrenamtlichen Naturschutzhelferinnen und Naturschutzhelfer koordiniert, und wird schließlich Referent für Naturschutz an der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL). Erna übernimmt 1951 eine Stelle als Referentin für Naturschutz in Bad Freienwalde. Doch das sind nur die Ämter.
Ihre Strahlkraft gewinnen sie vor allem durch ihren unbändigen Tatendrang und ihre Offenheit. Sie sammeln alles an Naturschutzwissen und Praktiken, was ihnen in die Hände fällt – und tragen es weiter. Gemeinsam organisieren sie mobile Informationsstände in einem ausrangierten Möbelwagen, entwerfen Ausstellungen, schreiben Aufsätze, Broschüren, Bücher. Als Naturschutzreferent der DAL arbeitet Kurt am neuen DDR-Naturschutzgesetz mit – das allerdings hinter seinen Vorstellungen zurückbleibt. Zusammen stößt das Paar 1954 ein ganz neues Projekt für Wissensvermittlung und Naturbildung an: die Lehrstätte für Naturschutz.
Sie ziehen mit staatlicher Erlaubnis und selbstgesammelten Spenden für den Aufbau in einen leerstehenden Bauernhof in Waren an der Müritz: "In diese Einsamkeit, kein elektrisches Licht, kein Telefon", erinnert sich Erna Kretschmann. Wie stößt man in dieser Abgeschiedenheit eine Bildungseinrichtung an, die Reichweite entwickeln kann? "In dieser rückständigen Situation haben wir mit Mut begonnen und haben mit Kerzenlicht die ersten Lehrgänge durchgeführt. Im nächsten Jahr hatten wir dann schon Petromax-Lampen, und im übernächsten Jahr hatten wir schon einen Haushaltsplan erreicht und bekamen elektrisches Licht", wird sich Erna Kretschmann erinnern. Hier leiten sie unzählige Menschen an, aktiv zu werden, auf allen Ebenen Naturschutzfragen voranzutreiben und offen für Neues zu bleiben.
"Der Naturschutz, der staatliche Naturschutz, war zu schwach in der DDR"
Nach Reibereien mit den amtlichen Strukturen 1960 kehren die beiden nach Bad Freienwalde zurück. Erna wird Bezirkssekretärin für die Themenfelder Natur und Heimat im Bezirk Frankfurt/Oder, nimmt dann eine halbe Stelle in einer Buchhandlung an und baut mit Kurt das Haus der Naturpflege auf: Ein einfaches Blockhaus mit Gartenflächen und kleinen Biotopen, das sich zu einer Zentrale für angewandten Naturschutz und eine alternative Lebensweise entwickelt. Eigentlich wollen sie damit ein Modell liefern für ein Netz aus vielen regionalen Einrichtungen, wie Kurt Kretschmann später berichtet: "Der Grundgedanke war, Häuser für Naturpflege am Rande der Großstädte einzurichten, auch in anderen Großstädten. Aber das ist nicht passiert. Der Naturschutz, der staatliche Naturschutz, war zu schwach in der DDR."
Erna Kretschmann und ihr Mann lassen sich davon nicht beirren. Sie leben von ihren Vorträgen und aus ihrem Garten, bringen Menschen zusammen, diskutieren, legen Lehrpfade in der Umgebung an, initiieren Artenschutzprojekte für Storch und Fledermaus, sind Aufklärerinnen und Aufklärer. Ihr unabhängiges Naturschutzleben wird geduldet. 1981 dreht der Fernsehredakteur Hartmut Sommerschuh den Film Ein Leben ohne Zäune über "diese beiden freundlichen Menschen" und deren ungewöhnliches und "facettenreiches Leben". Der Beitrag wird an einem Samstagnachmittag im Januar 1982 gesendet, nachdem auf redaktionelle Weisung noch Kurts Satz "Wer für den Naturschutz ist, ist auch für den Frieden" herausgeschnitten werden muss. Am folgenden Montag wird eine erneute Ausstrahlung des Films verboten, das Sendeband eingezogen. Die öffentliche Darstellung der Projekte und Lebensweisen der Kretschmanns haben aus Sicht der Partei in Zeiten eines wachsenden und politischen Umweltbewusstseins einen konterrevolutionären Ruch. Ihre Einstellung, die Verknüpfung von Naturschutz- und Friedensarbeit steht längst im Verdacht, die aufkeimende unabhängige Umweltbewegung zu stützen. Dem Sendungsbewusstsein und der Aktivität des Paares tut das indes keinen Abbruch. Ihr Haus der Naturpflege ist bis heute einer der zentralen Erinnerungsorte der Naturschutzgeschichte der DDR.
Zitate entnommen dem Zeitzeugenbericht von Erna und Kurt Kretschmann und Hartmut Sommerschuh in: Behrens/Hoffmann (2013): Naturschutzgeschichte(n), S. 259-270 und S. 364-366.