Bitteres aus Bitterfeld
Es sind eindrückliche Bilder einer Umweltkatastrophe, die das ARD-Magazin Kontraste am 27. September 1988 sendet und die in vielen Wohnzimmern der DDR zu empfangen sind. Zu sehen sind Berge von Sondermüll und Seen von giftigen Abwässern rund um Bitterfeld und Wolfen. Der Beitrag zeigt ein ungeheuerliches Ausmaß der Umweltverseuchung. Und er benennt, wer das Ganze öffentlich macht: Mitglieder des Grün-ökologischen Netzwerkes Arche. Ihr Werk ist weder für den "innerkirchlichen Gebrauch" deklariert, noch so zurückhaltend formuliert, dass es staatlicherseits geduldet wird. Damit gehen die Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten einen neuen Weg.
Ende des 19. Jahrhunderts siedeln sich rund um den Braunkohletagebau im Gebiet Bitterfeld erste chemische und energieintensive Unternehmen an. Die Werke wachsen, neue kommen hinzu. Trotz zu leistender Reparation nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich hier einer der zentralen Chemiebezirke der DDR. Die Fabriken in Bitterfeld produzieren Stickstoffdünger, Pestizide, Waschsubstanzen, die Werke in Wolfen Farben und Filme, auch für den Westexport. Zeitgleich gräbt sich der Tagebau Goitzsche weiter in die Erde. Die Verschmutzung der Luft und der Flüsse ist allgegenwärtig. Auf den Häusern und Höfen unweit der Werke liegt die Flugasche manchmal zentimeterdick. Das Grundwasser ist bis heute stark belastet und muss eine Vielzahl von Filtern durchlaufen.
1984 finden die ersten Bitterfelder Ökologietage statt, auf Initiative des Kreisjugendpfarrers entsteht eine ortsansässige Umweltgruppe. Wenige Jahre später lernen Carlo Jordan und Ulrich Neumann vom Grün-ökologischen Netzwerk Arche den ehemaligen Chemiefacharbeiter Hans Zimmermann (1948-2015) kennen, der sich kritisch mit der Umweltsituation in Bitterfeld auseinandersetzt. Sie entwickeln ein Projekt, das seinesgleichen sucht: Den Dokumentarfilm Bitteres aus Bitterfeld.
"Vorsicht. Giftig"
Um die Aktion nicht zu gefährden, sind nur wenige Personen eingeweiht. Ulrich Neumann nimmt Kontakt zu der West-Berliner Journalistin Margit Miosga auf. Der West-Berliner Kameramann Rainer Hällfritzsch wird für die Aufnahmen gewonnen. Hans Zimmermann wählt die Drehorte aus. Schließlich kommt für die Logistik noch Arche-Akteur Edgar Wallisch hinzu. Er besitzt einen blauen Lada, wie er oft von der Stasi benutzt wird. Dieser soll ihre Fahrt durch das Industriegelände tarnen. Als Drehtag wählt die Gruppe den 25. Juni 1988. An dem Tag findet das Endspiel der Fußball-Europameisterschaften statt. Die Aktivistinnen und Aktivisten hoffen, dass auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsicherheit, Volkspolizei und Betriebe das Finale sehen wollen und weniger präsent sind. Zudem ist Kirchentag in Halle, und viele Sicherheitskräfte sind dort gebunden. Der Plan gelingt: Das Filmteam mit seinem eher unauffälligen und kleinen Camcorder wird weder entdeckt noch aufgehalten. Edgar Wallisch sorgt dafür, dass das Rohmaterial Ende Juni nach West-Berlin gelangt, wo es der – mittlerweile ausgereiste – Ulrich Neumann in Empfang nimmt und zusammen mit Hällfritzsch und Miosga schneidet und vertont.
Die Bilder zeigen den sogenannten Silbersee bei Wolfen und unzählige Giftmüllbehälter auf der Deponie Freiheit III. Panoramaaufnahmen dokumentieren das Ausmaß der Umweltkatastrophe in teils surrealen Farben, Nahaufnahmen der Warnhinweise geben Auskunft über die toxischen Inhalte der abgeladenen Fässer: "Vorsicht. Giftig". Ein sachlicher Kommentar erläutert, was zu sehen ist und welche Gefahren für Mensch und Umwelt damit verbunden sind.
"Am wichtigsten und wirksamsten sollten unsere Filme werden"
Die Uraufführung des Films findet bei verschiedenen Umweltgruppen in der DDR statt. Erst danach "haben wir ihn freigegeben für Kontraste", erinnert sich Carlo Jordan.
Das ARD-Magazin zeigt eine gekürzte Fassung, ergänzt durch ein Interview mit Ulrich Neumann. Mit der Ausstrahlung erfährt die DDR-Öffentlichkeit auch, was die Samisdat-Schrift Arche Nova später schwarz auf weiß veröffentlicht: Sie kann über Umweltprobleme und die eigene Gefährdung kaum etwas wissen, weil Umweltdaten seit 1982 unter Verschluss gehalten werden. Diese Geheimhaltung aber öffnet der illegalen Entsorgung von Giftmüll Tür und Tor.
Präsentiert wird der Film als reines Produkt des Grün-ökologischen Netzwerkes Arche. Gemeinsam mit der Erstaufführung in der DDR soll dies verhindern, dass die Glaubwürdigkeit des Films durch den Vorwurf der "Westpropaganda" torpediert wird. Gelingen aber kann die Aktion nur als Gemeinschaftsprojekt, zwischen Ost- und Westdeutschland, ausgereisten und gebliebenen DDR-Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten. Auch mit dieser Teamgestaltung geht das in Ost-Berlin gegründete, regional strukturierte Netzwerk neue Wege und unterscheidet sich von anderen Umweltgruppen der DDR.
Der Sendung des Films folgt innerhalb kürzester Zeit die Planierung der Deponie Freiheit III. Der Rat des Bezirkes Halle veranlasst die Erfassung von Altlasten und fordert – bereits als Kritiker des Status quo bekannt – Sanierungsmaßnahmen. Hans Zimmermann gerät in den Fokus der Stasi, doch er kann sich glaubhaft von der Ausstrahlung in der ARD distanzieren. Öffentlich streiten staatliche Stellen und Betriebe weiterhin alle Probleme ab. Doch die Umweltsituation und das Versagen des Staates sind nicht mehr zu leugnen. Für Gisela Kallenbach spielt Bitteres aus Bitterfeld so eine wichtige Rolle im Vorfeld der Ereignisse von 1989: "Das sind alles Mosaiksteine gewesen, mehr und mehr Menschen bewusst zu machen, dass es um Bürgerrechte geht, dass es um Menschenrechte geht, dass es um Bewahrung der Lebensgrundlagen geht und dass wir in allem persönlich betroffen sind."
Alle namentlich nicht gekennzeichneten Zitate entstammen dem Interview mit Carlo Jordan am 03. August 2020.
Interview mit Gisela Kallenbach am 23. Juli 2020.