Jürgen Trittin: Vorkommnisse in Philippsburg müssen vollständig und lückenlos aufgeklärt werden

24.10.2001
Hinweis: Dieser Text stammt aus dem Pressearchiv.
Veröffentlicht am:
Laufende Nummer: 210/01
Thema: Nukleare Sicherheit
Herausgeber: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Leitung: Jürgen Trittin
Amtszeit: 27.10.1998 - 22.11.2005
14. Wahlperiode: 27.10.1998 - 22.10.2002

Zu den Vorkommnissen im baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg erklärt Bundesumweltminister Jürgen Trittin:

Das Bundesumweltministerium ist am späten Montagabend, dem 22.10. 2001, von einem weiteren gravierenden Vorkommnis im Atomkraftwerk Philippsburg 2 unterrichtet worden. Dieses Ereignis ist vomBetreiber an die Landesbehörde als Sofortmeldung nach der atomrechtlichen Meldeverordnung und nach Stufe 2 der internationalen Störfallskala (INES) gemeldet worden. Dabei handelt es sich umeinen Vorgang, der bereits im August stattfand.

Auf Betreiben des Bundesumweltministeriums ist am 8.10. 2001 die Anlage herabgefahren worden, weil in drei von vier Flutbehälterpaaren für das Not- und Nachkühlsystem derBorsäuregehalt zu gering war. Bei der behördlich angeordneten Analyse dieser Vorgänge wurde nun festgestellt, dass nicht nur Defizite bei der Borierung bestanden, sondern auch beiallen vier Flutbehältern der Füllstand zum Teil deutlich unter dem im Betriebshandbuch vorgegebenen Wert von 12,6 m lag; in einem Falle sogar um 3,3 m niedriger.

Die besondere Schwere des Ereignisses liegt darin, dass

  • bei einem Störfall möglicherweise zu wenig Wasser zur Nachkühlung des Reaktorkerns und damit zur Verhinderung seines Versagens zur Verfügung gestanden hätte,
  • dieses Risiko vom Betreiber bewusst und in Abweichung von den gültigen Vorschriften der Genehmigung eingegangen wurde.

Die Überprüfungen haben ergeben, dass dieses Risiko nicht nur einmal, sondern in unverantwortlicher Weise vom Betreiber seit 17 Jahren -- mit einer Ausnahme -- beim Wiederanfahren vonBlock 2 nach Revisionen in Kauf genommen wurde.

Diese Vorgänge offenbaren ein nicht zu verantwortendes Maß an fehlender Sicherheitskultur. Durch die Ereignisse in Philippsburg steht nicht nur das Sicherheitsmanagement der Betreiberauf dem Prüfstand, in der Diskussion sind zugleich die Effektivität der Prüfungen durch Gutachter und zuständiger Landesaufsichtsbehörde.

Wie berechtigt die auf mein Betreiben veranlasste Abschaltung der Anlage in Philippsburg ist, wird durch die jüngsten Vorgänge nachdrücklich unterstrichen. Diese Vorgänge undihre dringend notwendige vollständige Aufklärung machen es unmöglich, zum jetzigen Zeitpunkt einen Termin für das Wiederanfahren von Block 2 anzugeben. Das Atomkraftwerk darf solange nicht wieder angefahren werden, solange die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betriebs nicht ausgeräumt sind.

Es liegt in der Verantwortung des Betreibers, durch eine klare und nachvollziehbare Analyse der Vorgänge volle Transparenz zu schaffen und die Ursachen aufzudecken, auf der Basis dieserAnalyse geeignete personelle und organisatorische Änderungen vorzuschlagen und so durch praktisches Handeln die Zweifel an seiner Zuverlässigkeit auszuräumen.

Soweit dies nicht geschieht, stehen der Atomaufsicht ausreichende Handlungsinstrumente bis hin zum Widerruf der Genehmigung zur Verfügung.

Das Bundesumweltministerium hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen bzw. geplant, damit die Vorkommnisse in Philippsburg vollständig aufgeklärt werden:

Auf Verlangen der Bundesaufsicht hat das Umweltministerium von Baden-Württemberg einen ersten Bericht vorgelegt. Die Landesbehörde hat Maßnahmen auf verschiedenen Ebeneneingeleitet, unter anderem zur Begutachtung des Ereignisses. Das Umweltministerium Baden-Württemberg hat zugesagt, von sich aus das Bundesumweltministerium über neue Erkenntnisse zuunterrichten.

Darüber hinaus habe ich Baden-Württemberg aufgefordert, bis heute Abend darzulegen, ob es einen vergleichbaren Umgang mit den Vorschriften für einen sicheren Betrieb auch beiRevisionen im Block 1 des Atomkraftwerks Philippsburg gegeben hat. Beide Anlagen haben einen gemeinsamen Kraftwerksdirektor und werden vom gleichen Betreiber betrieben.

Da dieser Fall über Philippsburg und Baden-Württemberg hinaus Bedeutung hat, habe ich veranlasst, dass die Reaktorsicherheitskommission(RSK) unverzüglich unterrichtet wurde und dassdas Ereignis am 7.11.2001 zunächst im RSK-Ausschuss Reaktorbetrieb beraten wird. Ich habe zudem die Atomaufsichtsbehörden der Länder aufgefordert, das Qualitätsmanagement,insbesondere hinsichtlich der Arbeit der Sachverständigen und des Zusammenspiels von Sachverständigen und Behörde, zu überprüfen. Der Vorgang im ebenfalls vom Netz genommenenAtomkraftwerk Isar 1 wirft erhebliche Fragen hinsichtlich der Arbeit der Gutachterorganisationen auf.

Das Bundesumweltministerium hat zudem Berichte der zuständigen Landesatomaufsichtsbehörden angefordert. Die Länder sollen prüfen, ob vergleichbare Fälle wie inPhilippsburg insbesondere beim An- und Abfahren von Anlagen in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgetreten sind.

Der sicherheitsbedingte Stillstand von vier Atomkraftwerken der letzten Wochen - Philippsburg 1 und 2, Isar 1 und Biblis - waren von technischen Problemen, aber vor allem von einem mangelhaftenUmgang von Menschen mit der Technik geprägt. Das heißt für uns: Es gibt zu einem strikt sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes keine Alternative. Der sicherheitsorientierteVollzug ist nur durch eine stringente Aufsicht des Bundes zu gewährleisten.

24.10.2001 | Pressemitteilung 210/01 | Nukleare Sicherheit
https://www.bmuv.de/PM1630
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