Reaktorsicherheitskommission legt erste Stellungnahme vor
Die deutschen Atomkraftwerke sind in einem unterschiedlichen Maß gegen Flugzeugabstürze geschützt. Ob sie aber einem gezielten terroristischen Angriff mit einem großenVerkehrsflugzeug standhalten würden, muss als fraglich gelten, da für einen solchen Fall keine Untersuchungsergebnisse vorliegen. Dies stellt die Reaktorsicherheitskommission (RSK) in einerersten vorläufigen Stellungnahme zu dieser Frage fest, die heute veröffentlicht wurde. "Es bleibt somit offen, ob bei einem solchen Ereignis die maximal auftretenden mechanischenBelastungen ohne größere Schäden abgetragen werden können und alle zur Beherrschung des Ereignisses benötigten Systeme funktionsfähig bleiben", heißt es in demBericht. Ob das Schutzniveau der Anlagen durch bauliche und technische Maßnahmen verbessert werden kann, muss nach Ansicht der RSK durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Eineneugebildete Arbeitsgruppe der RSK will sich diesen Fragen verstärkt widmen.
Bundesumweltminister Jürgen Trittin sagte, diese erste Stellungnahme der RSK unterstreiche den großen Nachholbedarf für weitere Analysen. "Wir werden die Untersuchungsaufträgezu den von der RSK umrissenen Fragestellungen umsetzen. Diese und die bisher schon dazu in Auftrag gegebenen Untersuchungen werde ich der RSK ebenfalls zur Begutachtung vorlegen."
In der vorläufigen Stellungnahme, die Trittin wenige Tage nach den Terroranschlägen in den USA von der RSK angefordert hatte, wird ausgeführt, dass die neueren Atomkraftwerke einenausreichenden Schutz gegen die Auswirkungen eines Absturzes einer schnellfliegenden Militärmaschine (Aufprallgeschwindigkeit 774 km/h) gewährleisten. Diese Auslegung biete gleichzeitigeinen Grundschutz gegen ein großes Spektrum möglicher Abstürze ziviler Maschinen. "Auf Grund vorliegender Untersuchungen kann erwartet werden, dass hiermit mindestens die mechanischenBelastungen abtragbar sind, die beim zufallsbedingten Absturz eines Verkehrsflugzeuges mittlerer Größe auftreten, wobei die Aufprallgeschwindigkeit bisher im Bereich von 350 bis 400 km/hunterstellt wurde", so die RSK.
Bei einem gezielten Angriff mit einem großen Verkehrsflugzeug müsse hinsichtlich der mechanischen Belastungen das höhere Flugzeuggewicht und gegebenenfalls eine höhereAufprallgeschwindigkeit berücksichtigt werden. Andererseits sei von einer erheblich größeren Lastauftrefffläche sowie einer zeitlichen Entzerrung der Lastanteile undunterschiedlichen Auftreffwinkeln der Flugzeugkomponenten auszugehen. Neben den mechanischen Belastungen seien auch die Auswirkungen des zu erwartenden Treibstoffbrandes zu beachten. "Dieser Fall istin der Vergangenheit nicht unterstellt worden, so dass hierfür keine Untersuchungsergebnisse vorliegen," stellt die RSK fest und betont die Notwendigkeit weiterer Forschungen. Ohne vertiefendeAnalysen seien verlässliche Aussagen zu potenziellen Schadenszuständen nicht möglich. "Es bleibt offen, ob durch verursachte Brandeinwirkungen sowie Trümmereinwirkungen eingleichzeitiger Ausfall redundanter Sicherheitseinrichtungen, die zum Ausfall der Nachwärmeabfuhr führen können, eintreten kann." Abhängig vom Schutzgrad der jeweiligen Anlageseien im Einzelfall auch massive Freisetzungen radioaktiver Stoffe nicht auszuschließen.
Ob das Schutzniveau der Anlagen durch bauliche und technische Maßnahmen verbessert werden kann, muss nach Ansicht der RSK ebenfalls durch vertiefende Analysen geklärt werden, die auchdie Besonderheiten und den vorhandenen Schutzgrad der jeweiligen Anlage berücksichtigen. Dazu müssten denkbare Szenarien und Lastannahmen entwickelt und Schwachstellen hinsichtlich desErhalts der vitalen Anlagenfunktionen ermittelt werden.
Die kurzfristigen Möglichkeiten, das Schadensausmaß für den Fall eines solchen Absturzes zu verringern, sind nach Auffassung der RSK sehr beschränkt. In Frage komme imBedrohungsfall "das Abfahren der Anlagen in den kalten, unterkritischen Zustand". Durch die nach der Abschaltung verminderte Nachzerfallsleistung und die bereits kalten, drucklosen Systeme bliebedann mehr Zeit für Notfallmaßnahmen. Allerdings, so die RSK, wird das für die Strahlenbelastung bei einer Freisetzung in die Umgebung relevante Potenzial an langlebigen Spaltproduktenmit dem Abschalten der Anlagen nicht entscheidend beeinflusst. Eine drastische Verringerung des radioaktiven Inventars könnte erst durch die Entladung der Brennelemente aus demBrennelement-Lagerbecken und deren Verbringung in ein gesichertes Lager erreicht werden. Dies sei jedoch kurzfristig nicht möglich, sondern dauere mehrere Monate. Außerdem: "EinAbtransport der aus dem Reaktorkern ausgeladenen Brennelemente könnte wegen der zu beachtenden Abklingzeit frühestens ein halbes Jahr nach Abschaltung erfolgen. Allerdings ist zu beachten,dass für derartige Maßnahmen die organisatorisch-technischen Voraussetzungen (z. B. Verfügbarkeit von Behältern) zurzeit nicht vorliegen."
Die wirksamste Maßnahme zur Verringerung des Risikos sieht die RSK darin, "die Eintrittshäufigkeit eines derartigen Ereignisses durch ein gestaffeltes Schutzkonzept mit gezieltenadministrativen und technischen Maßnahmen im Bereich der Flugsicherheit soweit wie möglich zu reduzieren."